Über den “White Gaze” – Sabine Sörgel im Interview mit CHAKKARs
Sandra und Sarah: Liebe Sabine, Wir freuen uns, dass Du Lust und Zeit hattest unseren Austausch zum ‘White Gaze’ für den eZine in Form dieses Interviews weiterzuführen! . Hier gleich unsere erste Frage:
Wann haben sich bei dir zum „White Gaze“ erste Bewusstseinsprozesse ergeben?
Sabine: Der Begriff wurde für mich relevant im Zusammenhang meiner tanzwissenschaftlichen Forschung zu Transnationalismus und zeitgenössischem Tanz. In der Auseinandersetzung mit US-amerikanischen Kolleg*innen vor allem, die meine Arbeit kritisch sahen, aufgrund der Tatsache, dass ich weiß sei und meine Sichtweise allein deshalb schon in Frage stellten, gerade wenn es um Tanzformen der afrikanischen Diaspora ging. Als ich dann das Werk von George Yancy zu lesen begann, stellte sich mir dann auch selbst die Frage immer dringlicher, die Diskurse in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen die meinen Blick nun eben mal als weiß konstituieren. Ob mir das nun gefiel oder nicht, ich habe das als eine Art Übung betrachtet, obwohl es mich zunächst nicht an dem Tanztheater interessiert hatte. Und auch das ist interessant, dass ich immer noch damit unzufrieden bin, dass identitätspolitische Analysen allein das Phänomen Tanz viel zu klein halten und wenngleich es wichtig ist zu wiederholen, doch immer nur wieder das gleiche erzählen, ohne Rassismus damit allein schon abzuschaffen.
Die Art und Weise wie uns Theater, Film und Fernsehen hierarchisch zu sehen gelehrt haben, spielt dabei natürlich ein große Rolle in der westlichen Tradition seit der Renaissance, die sich eng an die Geschichte von Kolonialismus, Eroberung und weiße Vorherrschaft knüpft. Interessant finde ich dabei, dass sich viele dieser rassistischen Sehweisen in unser kulturelles Unterbewusstsein eingeprägt haben, dort quasi unsichtbar weiterleben, und dann leider immer wieder mit Gewalt aus- und durchbrechen. Systemischer Rassismus wäre nicht möglich, ohne die Rolle, die dieses kulturelle Unterbewusstsein wie ein Schatten der westlichen kapitalistischen Gesellschaft prägt, gerade auch jetzt wieder, wenn Xenophobie und Gewalt in der Öffentlichkeit erneut salonfähig werden und medial aufgeheizt werden durch stereotype Darstellungen des sogenannten Anderen als Feindbild.
Sandra und Sarah: Kannst du beschreiben, was das emotional gemacht hat?
Ich glaube, dass auch ich lange verdrängen wollte, dass ich einen weißen BIick auf die Welt habe, weil ich dazu erzogen wurde anti-rassistisch zu denken. Rassismus ist in Deutschland meiner Generation, ich war dreizehn Jahre alt, als die Berliner Mauer fiel, ein Tabu gewesen. Man glaubt irgendwie, das zu beherrschen allein durch die kritische Aufarbeitung und öffentliche Verdammung des Nationalsozialismus im Gedenken an die unfassbaren Verbrechen des Holocaust und eines Versprechens des „nie wieder“, von dem Deutschland nun leider bitter Abschied genommen hat in Ansicht dessen, was jetzt wieder hier in Deutschland passiert, inzwischen.
Hinter dieser Maske von Tabuisierung von Rassismus, so würde ich das heute sehen, verschwand lange Zeit jedes Bewusstsein und insbesondere auch die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus, die ja erst jetzt so richtig begonnen hat. Und so habe auch ich über Rassismus erst anders zu denken gelernt im Zusammenhang mit US-Amerikanischer Geschichte und dann auch die Erfahrungen während meiner Doktorarbeit auf Jamaika zum Tanztheater der Karibik.
Der Wunsch, am liebsten selbst nicht rassistisch zu sein, wie es die Generation der Großeltern in Deutschland noch gewesen war, barg so die Naivität sich als jenseits von Rasse und Rassismus zu wähnen. Von der Geschichte verschont. wie es so schön heißt, durch die Gnade später Geburt. Man war also weniger deutsch und mehr europäisch und gleichzeitig doch eingeschrieben in Privilegien und Machtverhältnisse die weißen Menschen durch diese historisch gewachsenen strukturellen Unterschiede unverhältnismäßig leichteren Zugang zu Bildung, Reichtum, etc. ermöglichen.
Emotional fühlt es sich dann so an, als hätte man sich lebenslang was vorgemacht und gelogen in gewisser Weise. Und dass man es natürlich lieber anders hätte und es dadurch länger braucht, als man wahrscheinlich zugibt, zu akzeptieren, dass man von etwas profitiert, dass einen gleichzeitig in dieser Rolle und in den Mustern von hässlichem Rassismus gefangen hält.
Es ist dann im zweiten Schritt auch gar nicht einfach das loszuwerden, genauso wie das umgekehrt eben auch gilt. Wo gebe ich das ab, mein weißes Privileg? Das lässt sich nicht einfach tauschen und wenn man es könnte, würde man es wahrscheinlich doch behalten wollen. Das ist die Crux mit der man sich weiter rumschlägt und versucht, möglichst vielen Menschen diese Privilegien zukommen lassen, aber auch da läuft es ja gerade nicht so und es schließt sich der Kreis zur umfassenden Gesellschaftskritik, die eine ganz neue Weltordnung denken müsste. Davon sind wir aber weiter entfernt denn je, scheint es.
Und an diesem irgendwie sehr ratlosen Punkt stehe ich ganz ehrlich heute auch immer noch und es fühlt sich, wie soll ich sagen, verdammt feige an: wie kommen wir aus dem Blickfeld weißer Diskurse? Was tue ich dafür, weiße Hierarchien zu durchbrechen? Nicht viel, nie genug.
Und doch bei allem täglichen Scheitern an diesem Punkt spielt Tanz dabei eine ganz wichtige Rolle für mich, da es beim Tanzen eben nicht nur darum geht gesehen zu werden, sei das nun auf der Bühne oder im Film, sondern sich selbst zu spüren. Da öffnen sich Welten jenseits des Blicks, die ich für besonders wichtig halte, um Rassismus und rassistisches Denken zu überwinden.
Sandra and Sarah: Vielen Dank, Sabine für diese ausführlichen, unerbittlich ehrlichen Reflexionen! Hast Du ein oder zwei konkrete Beispiele, wie dies Dein Sehen und Schreiben transformiert hat?
Sabine: Die Erkenntnis einen weißen Blick zu haben und auch zu wissen, dass dieser strukturell sowohl in mir angelegt ist als auch von der Art und Weise wie Bildwelten inszeniert werden immer wieder forciert wird, hilft mir jetzt, das alles zumindest immer wieder kritisch neu in Frage zu stellen. Damit will ich sagen, dass ein solch kritisches Bewusstsein weißer Blicke, deren Macht automatisch in Frage stellt, denn sie bleibt dadurch nicht länger unsichtbar, sondern weist auf sich selbst hin als etwas, das zu ändern gilt. In der Analyse versuche ich nicht länger objektiv zu sein, sondern meine eigenen Vorurteile als solche zu benennen. Es gibt in der Hinsicht kein Wissen, das ich von Tänzen einer anderen Kultur haben kann als das, was ich mir selbst zu eigen mache. Diese subjektive Aneignung sehe ich dadurch dann aber weniger als etwas moralisch verwerfliches, als eine radikal ehrliche Auseinandersetzung mit mir selbst und dem anderen im gemeinsamen Erleben verschiedener Tanzwelten.
Was ich über zeitgenössischen afrikanischen Tanz zu schreiben versucht habe, ist in gewisser Weise nämlich genau das, diese Umkehrung in der es mir nicht mehr darum geht, afrikanische Tänze objektiv zu beschreiben, sondern sie subjektiv auf mich wirken zu lassen und meinen Leser*innen so meine weißen Komplexe als solche auch vorzuführen, wenn das Sinn macht.
Letztlich glaube ich auch deshalb die akademische Welt hinter mir gelassen zu haben, weil die wissenschaftliche Erforschung von Tanz in diesem Zusammenhang immer noch zu kolonialistisch und weniger interessant erscheint als die künstlerische Zusammenarbeit mit Tänzer*innen als Kolonialismus-kritische Praxis des Sich-Selbst-Änderns in diesem Zusammenhang
Sandra und Sarah: Möchten Du noch etwas zu der spezifischen Verbindung sagen, die Du zwischen Tanz/Theater und dem Weißen Blick sehen?
Sabine: Das habe ich dann glaube ich ja bereits beantwortet, aber zu sagen wäre noch das Tanz jenseits von Theater die stärkere anti-rassistische Praxis hat, immer wieder neu weiße Blicke zu stören, da Theater als solches gebaut wurde, um kolonialistische Vorherrschaft und Sehweisen zu etablieren. Das beginnt mit Ludwig dem XIV. und endet in Bayreuth, mal überspitzt gesagt.
Sandra und Sarah: Hast Du einen Impuls für ein Tanzpublikum um eigene Bewusstseinsprozesse zum “White Gaze” zu initiieren.
Es wäre mir in dem Zusammenhang immer wichtig, den Tanz nicht länger nur sitzend zu betrachten, sondern sich ganz-körperlich auf ihn einzulassen. Wie atme ich, wie stehe ich im Leben, wie spüre ich den anderen Menschen, jenseits des Bildes, das ich mir von ihm oder ihr mache oder wie es mir durch die Medien übermittelt wurde – das wäre ganz wichtig, diese Erfahrungen als Tanzpublikum zu machen, um sich selbst und einander jenseits von Blick und Hautfarbe zu nähern.
Sandra und Sarah: Vielen Dank, Sabine, für das Interview!
Bio
Sabine Sörgel promovierte in Performance- und Medienwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz/Deutschland. 2003 führte sie field research mit der National Dance Theatre Company of Jamaica in Kingston durch, in der sie postkoloniale Identitätsdiskurse im Kontext der Politik des post-independence Nation Building untersuchte. Von 2008 - 2012 war sie Lecturer in Drama, Theatre and Performance an der Aberystwyth University in Wales, UK und erhielt von 2011-12 ein einjähriges Forschungsstipendium am Interweaving Performance Cultures Research Centre der Freien Universität Berlin. Von 2013-2019 war sie als Senior Lecturer in Dance and Theatre an der University of Surrey in Guildford, UK und Programmleiterin des dortigen BA Dance and Culture Programms tätig. Seitdem arbeitet sie frei als Forscherin, Dramaturgin und Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen gehören u.a. Dancing Postcolonialism – The National Dance Theatre Company of Jamaica (2007), Dance and The Body in Western Theatre. 1948 to the Present (2015) und Contemporary African Dance Theatre: Phenomenology, Whiteness, and the Gaze (2020). Oktober 2021 - Juli 2022 war sie Research Fellow am Käte Hamburger Kolleg Global Dis:Connect an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist seit 2023 Leiterin der der Akademie am tanzhaus NRW, Düsseldorf.