ABSEITS – Nachdenken über den Blick und gesellschaftliche Normvorstellungen
In Gesprächen zum ‘White Gaze’ mit Sarah und Sandra von CHAKKARs - Moving Interventions stellten sie mir die Frage, ob sich mein Blick (auf Performance, auf zeitbasierte Darstellungen des Körpers) über die Jahre verändert hätte. Diese Frage fand ich ebenso interessant wie irritierend, definitiv nicht auf Anhieb zu beantworten. Gerade weil ich meiner Profession als Dramaturgin und Tanztheoretikerin halber nichts anderes tue als mich immer wieder mit dem Blick auseinanderzusetzen, dem Blick auf Bilder von Körpern, dem Blick auf den Körper, auf den normativen Körper, auf den begehrten Körper, den Frauenkörper, die Männlichkeitsbilder, etc. Auch nahm und nehme ich Bilder in unseren Köpfen, die Einverleibung von Blicken, Vorstellungs- und Projektions- Räume, „Rechte Räume“ etc., die „Geländer im Denken“ (H. Arendt), immer wieder ins Visier, weil sie unser Miteinander bestimmen, weil sie unsere Gesellschaften formen und Teil des Sozialen sind. Als zwei Referenzen kann ich auf die Reihe „Begehrte Körper“ hinweisen oder die Konferenz „Moving thoughts“, die ich im Rahmen meiner Recherchen am Tanzarchiv Leipzig kuratierte. Moving thoughts lautet auch der Titel des Bandes, den ich zur Dokumentation der Konferenz herausgab.
Ich habe mich auch mit kunsttheoretischen Diskursen im Hinblick auf Performance, die zeitbasierte Körperdarstellung (Theater, Tanz, Musiktheater …) beschäftigt. Mich beschäftigte lange der Aspekt, dass das, was ich sehe, mich im Gegenzug wieder anblickt. Diese Art der Selbstreflexion half mir. Ich wollte (als Person, die über Tanz spricht und schreibt) über Zusammenhänge, Sachverhalte und Dinge derart sprechen, dass ich mich gleichzeitig als Sprechende Person, sowie meine Position, von der aus ich Kritik (im philosophischen Sinne) übte transparent mache. Geprägt und geübt bin ich natürlich auch vom Studium der postmodernen und poststrukturalistischen Denkern, Deleuze aber auch Derrida, Jean Luc Nancy, Judith Butler, etc., um nur ein kleines, unsortiertes Namedropping zu machen.
Den mir nun eigenen Blick in den Blick zu nehmen, verunsichert und erscheint mir dennoch ein Unterfangen, das sich gut für eine Selbstbefragung eignen könnte, weil der Blick plötzlich keine selbstverständliche Sache mehr ist, sondern eine komplexe, multifaktorielle und herausfordernde Angelegenheit wird.
Im Nachdenken über den (White) Gaze lege ich den Schwerpunkt auf die Veränderung der Betrachtungsweise und stelle mir selbst solche Fragen, die die Transformation sichtbar machen. Diese Fragen versuche ich mir jeweils mit kleinen Reflexionen zu beantworten.
Aller Anfang ist schwer, deshalb fange ich mit der Frage an: was hat meinen Blick verändert?
Zunächst würde ich sagen, Reflexion und Analyse – das hat mir immer schon Spaß gemacht. Das Objekt und seine kritische Betrachtung sowie Selbstkritik beschäftigen mich durchweg.
Schön und gut, leider aber ist das nicht ohne weiteres verständlich, deshalb versuche ich es konkreter zu machen: Was also hat konkret meinen Blick verändert? Was heißt Analyse? Was heißt Reflexion?
Wenn ich über analytisches Herangehen nachdenke, dann spreche ich konkret vom analytischen Blick, vom wissenschaftlichen, objektiven, kritischen Blick … Ist das immer noch akademisch? Schwer entkommt man oder besser frau der Geschwätzigkeit der Diskurse auf den Allgemeinschauplätzen der Universitäten und anderen Wissens-Institutionen. Auch fällt es schwer, niedrigschwellige Erklärungsmodelle zu finden, die keine akademische Sprache benutzen.
Also fange ich nochmals an. Ich will es ein drittes Mal versuchen und dazu zwei Aspekte zu trennen, die beide meinen Blick verändert haben: : 1) ist das auf der einen Seite das Denken an sich, die Positionen der Philosophie[1], die mich immer beschäftigen und 2) auf der anderen Seite sind es gewisse Handwerkszeuge, die mich befähigen zu analysieren und konstruktiv Kritik zu üben; das sind reflexive Instrumente, die mir helfen aufzuzeigen, wie und dass Körperbildern konstruiert werden, wie z.B. Bewegungsanalyse oder andere Dekonstruktionsmethoden. Es geht mir dabei darum, dass ich quasi Argumente der Körper und Bühnensprache freilegen kann. Die Denkmodelle des deutschen Philosophen und Phänomenologen Bernhard Waldenfels haben hier sicherlich viel mit mir gemacht, aber dann auch der französische Jean Luc Nancy, das Denken von Deleuze, aber auch Hannah Arendt. Ich glaube aber, das lässt sich nicht im Rahmen dieses Selbstgesprächs erörtern.
So stellt sich jetzt die Frage: in welchem Zusammenhang stehen konstruierte Körperbilder, der Blick und Instrumente, das hört sich irgendwie wie im Operationssaal oder in der Orchesterprobe an, eine Komplexität, die man erklären muss.
Der Körper ist nie gegeben, das ist eine Tatsache:. Er ist immer ein ästhetisches und kulturelles, soziales oder politisches Konstrukt oder gar Produkt, hergestellt aus Denkweisen, antrainierten Fähigkeiten, Vorstellung z.B. von schön und hässlich, etc. Viele diverse und differenzierende Faktoren sind an diesem Prozess beteiligt. Das hat viel mit Ideologisierung in Gemeinschaften und Gesellschaften zu tun oder auch mit Kontrolle, Bevormundung und Beherrschung . Das gehörte zu den ersten wichtigen Entdeckungen, die ich in meiner Studienzeit machen konnte.
Ich möchte deshalb auf einen konkreten anschaulicheren Zusammenhang eingehen, nämlich auf den Zusammenhang von Körper- und Tanztechniken, denen immer Ideologien anhaften, ebenso wie Konzepte von Weltanschauung, – Ideologien, können rechts, rassistisch, evolutionistisch, revolutionär, autoritär, entmachtend, demütigend, beschämend und verletzend, etc. sein.
Jetzt wird viel aufgezählt, das wird vielleicht sogar verwirrend, kannst du das nochmals konkreter erklären?
Gerne nochmals anders – ich konnte immer großes Interesse dafür aufbringen, Zusammenhänge anzuschauen und Beziehungen zu betrachten, z.B., das eine Objekt im Zusammenhang mit einem anderen Objekt; oder ich beobachtete, wie bewegt sich “A” in Bezug zu “B”, oder eine Gruppe von Tänzer*innen miteinander, etc.. Weniger interessierte mich, ob das, was ich betrachte, “schön” ist, oder ich es als “schön” empfinde..
Ich hatte das Glück, mich mit Bewegungsanalyse und Tanznotationen in meinem Studium auseinandersetzen zu können. Deshalb möchte ich zu den Werkzeugen kommen, von denen ich anfangs sprach. Movement Evaluation Graphics von Cary Rick und Claudia Jeschke, oder William Forsythes Improvisation Technologies: A Tool for an analytical dance eye, - ein immens wichtiges Instrumentarium, mit dem man gut Bewegung lesen kann und nicht die Körper interpretiert, die sich bewegen. Identitäre Körperkonzepte treten mit dieser Betrachtungsweise in den Hintergrund und spielen in erster Linie keine Rolle. Aber auch das Studium der Notationen alter, barocker Tanzmeister, oder die Beschäftigung mit der Laban Notation oder zeitgenössischen Notationen etc. – es ist gar nicht notwendig, alle Methoden aufzuzählen, das wirkt vielleicht nur angeberisch. Vielmehr kann ich behaupten, dass alle Analysemethoden mir eine Sprache gegeben haben. Ich konnte damit benennen, was ich sehe. Ich konnte andere Unterscheidungen vornehmen. Ich konnte in die Konstruktion von Bewegung und Körper eintauchen und zeigen, wie Tanztechniken und Bewegungsmethoden Weltanschauung repräsentieren, aber diesen auch erzeugen, und damit ein Bild vom Menschen zeigen, das sich nicht nur über Haut, Haare, Kostüme, Geschlecht etc. manifestiert. Der Zusammenhang von Körperschwere, die mittels Tanztechnik, insbesondere virtuoser Tanztechnik, immer an der vertikalen Körperachse über den Körperschwerpunkt hinausgezogen wird oder gehalten wird, kommt in mehreren Tanz- und Körpertechniken vor, nicht nur im abendländischen Ballett. Solche Momente analysieren zu können, öffnet neue Möglichkeiten, über Tanz und Bewegung auch im interkulturellen Vergleich sprechen zu können. Ein Sprechen, das gegen das Verschweigen aufstehen kann.
Jetzt passierte mir ein Gedankensprung, vom Blick zum Sprechen zu gehen und sogar vom Schweigen zu sprechen, könnte irritierend sein?!
Ich finde diese Wortspiele interessant, da sie aus der kollektiven Erinnerung und dem kollektiven Gedächtnis sprechen. Sie haben viel bzw. an sich mit Wahrnehmung zu tun. Das Wegschauen ist dem Schweigen vergleichbar und im Sprachgebrauch besteht ein Zusammenhang zwischen dem, was ich verschweigen will, und dem, was ich nicht sehen will. Ebenso ist ein Zusammenhang vorhanden zwischen dem, worüber man nicht reden kann oder will, und dem, was der Blick nicht erträgt, z.B. Gewalt, Missbrauch, Schreckensbilder, Deformation, etc.
Und gerade im Bereich des Ästhetischen tun wir uns sehr schwer, über Gewalt zu sprechen oder diese als anwesend im Kunstschaffen anzuerkennen. Vieles wird als schön erachtet, was aber auf Gewalt fußt. Das Schöne loszulassen, das fällt schwer. Ebenso anzuerkennen, dass es meist mindestens eine Gegenseite dazu gibt.
Nicht nur in meinem Studium und meinen künstlerischen Forschungen stieß ich sehr schnell auf Mechanismen der Ausgrenzung. Ich befand mich mit meiner Forschung, aber auch den Programmen, die ich kuratierte, oder insbesondere an den Theatern oder Institutionen, in denen ich arbeite und arbeitete, definitiv nie auf einem neutralen Feld, aber die Möglichkeit der Dekonstruktion und Konstruktion, das Auseinanderbauen und wieder zusammenzubauen, das hat meinen Blick geprägt auch geschult, und dadurch vermutlich geändert - ebenso immer auch Wege eröffnet.
Wie ist damit gemeint - ´Wege eröffnet´?
Ich glaube, ich bin oft nicht dem gefolgt, was am augenscheinlichsten war, nicht dem, was am lautesten um Aufmerksamkeit buhlte. Ich habe mich bewusst und unbewusst von anderen Perspektiven einnehmen lassen. Ich habe immer wieder die Position des Blicks gewechselt. Ich glaube aber auch, ich folge dennoch immer einer gewissen Logik, Struktur oder besser vielleicht, einer Grammatik: mein Augenmerk landet immer auf der Verknüpfung und den Wechselverhältnissen.
Was haben Wechselverhältnisse mit Ausgrenzung zu tun?
Am Tanzarchiv Leipzig z.B. wurde ich mit dem Projekt Politik mit Tanz und Tanz mit Politik betraut. Ich untersuchte Interdependenzen zwischen Tanz, Politik und kultureller Identität ausgehend vom Nachlass des Tanzkritikers Fritz Böhme (1881 – 1951). Nicht auf den ersten Blick, aber definitiv auf den zweiten Blick konnte man an diesen Dokumenten nachvollziehen wie Rassismus und Antisemitismus und Ausgrenzung Anfang des 20. Jahrhunderts in der Tanzwelt Deutschlands Einzug hielten und das dauerte bis weit über den 2. Weltkrieg hinaus. Funktion, Mechanismen und Implementierung von Ausgrenzung haben sich leider nicht verändert. Ausgrenzung ist (ist?) immer Teil von identitären Konzepten und Ansätzen; Ausgrenzung ist immer Teil des konstruierten Blicks einer imaginierten Gemeinschaft, - eine imaginierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft, die man sich einbildet, die aber so nicht existiert, z.B. der Nationalstaat, oder nationalistische und völkische Gemeinschaften sind imaginiert. Solche Gemeinschaften sind unecht und müssen immer dekonstruiert werden, weil sie dennoch unser Leben bestimmen und Normen formulieren. Solche Gemeinschaften hantieren immer mit Ausgrenzen und schaffen keine Zugehörigkeit und keinen Zusammenhalt, im Gegenteil sie erzeugen kulturelle Fremdbestimmung, zwingen Sichtweisen auf, konfrontieren mit Abwertung und Beurteilung. Wir sind nach wie vor vom Funktionieren verschiedenster Konzepte der Ausgrenzung beherrscht und werden dadurch manipuliert. Dazu kann man auch Schönheits-, Sport- und Modeindustrie zählen. – Hass, Missachtung und Demütigung werden deshalb auch weiterhin auf der Grundlage der Konstruktion von Ausgrenzung erzeugt. Sozial und politisch wird Rassenideologien Vorschub geleistet; es werden nach wie vor auf verschiedenen Ebenen Minderwertigkeiten etabliert: Alles, was nicht akzeptabel erscheint und was visuellen Normen nicht entspricht, wird in die strukturelle Unsichtbarkeit gedrängt, dafür können (Schönheits)Operationen, Werbung, Kriege, aber auch Stadtplanung oder Sehgewohnheiten etc. sorgen. Der Ausweg ‚Anpassung‘ bewirkt in unseren so aufgeklärten Gesellschaften nach wie vor Demütigung und Scham und etabliert das strukturelle Andere. Diese Gesetzmäßigkeiten betreffen nicht nur Gemeinschaften, sondern in unserem Jahrhundert allem voran auch Kapitalmärkte, - das möchte ich hier gerne anmerken.
Das stimmt wohl, beschreibt aber wiederum einen großen Allgemeinplatz. Gibt es praktische Beispiele?
Natürlich könnten viele Beispiele aufgezählt werden. Das wiederum würde den Rahmen der Selbstbefragung mit einer vereinbarten und nicht allzu großen Anzahl an Zeichen sprengen, aber es gibt zwei praktische Beispiele, auf die ich gerne kurz eingehen kann. In unmittelbarer Gegenwart zeichnete ich mich für das Projekt „Gathering in a better world“ mitverantwortlich, das die internationale Vernetzung und Sichtbarmachung von Künstlerinnen mit Behinderung fokussierte, eine der vulnerabelsten Gruppen weltweit. Diese Arbeit brachte auch schmerzliche Erfahrungen, weil ich mich persönlich als weitgehend ableistisch sozialisierte Person, dementsprechend manches Mal diskriminierend wiedergefunden habe. Dieses Projekt öffnete aber auch ein endloses Lernfeld mit schönen Erfahrungen und echten Begegnungen.
Etwas weiter zurück liegt meine Arbeit als Dramaturgin am schauspielfrankfurt. HeutzuTage wird in Endlosschleifen diskutiert, wie divers die Ensembles an den deutschen Stadttheatern sein sollten, und nicht nur das, dannann erinnere ich mich gerne daran, dass wir vor nun fast 20 Jahren eine Besetzungspolitik pflegten, die der Zeit wohl voraus war. So wurde die Antigone und Ismene mit Poc-Frauen besetzt. Das geschah aus zwei Gründen: die Frauen waren tolle Schauspielerinnen, mit denen wir gerne zusammenarbeiteten. Aber sie waren vor dem Hintergrund gängiger Besetzungsnormen ein politischer Akt, gängige Vorstellungen wurden sehr deutlich unterbrochen, meinetwegen auch subversive angegriffen. Angegriffen wurden aber auch die Entwürfe und normierte Vorstellungen von Frauen, die von „(alten) weißen Männern“ entworfen wurden. Und natürlich widersprachen diese beiden Frauen dieser Vorstellung.
Erst recht aber sprengten wir die Norm bzw. den Besetzungskanon, indem wir die Iphigenie auf Taurus von Goethe mit einem schwarzen männlichen Schauspieler mit nacktem Oberkörper besetzten. Das war sehr spannend und verhalf dem doch etwas idealisierten Drama Goethes zu gewissem Witz und Reiz, weil mit die idealisierten klassizistischen Frauenbilder konfrontiert wurden und nicht aus interpretiert und bekräftigt wurden. Die Unterwerfung der Frauen unter männliche Fantasien und Projektion, die strukturelle Ungleichstellung der Frau in der Gesellschaft, ist und bleibt weiterhin ein großes Thema,x. Blicke umzulenken und Ideologien aufzubrechen, war immer Teil meiner dramaturgischen Arbeit. Am lebendigen Beispiel aus dem Stadttheater wir deutlich, dass Normen, normative Fremdbestimmungen, die Frauen betreffen, nach wie vor verhandelt werden müssen. Die Bühne könnte also eine Chance sein.
Vielleicht ist nun der Moment gekommen zu fragen, was zieht meinen Blick denn an?
Mein Blick zieht gerne ins Abseits. Mich fängt nicht der Mainstream, höchstens seine Schattenseite. Mir gefällt das Bild des Abseits, was ja im Fußball eine Regel ist, die allerdings selbst von vielen Fans gar nicht ganz verstanden wird. — Dazu gibt es ein Lächeln von mir, weil ich das sehr lustig finde.
Jetzt kommen wir aber von der Sache ab? Das ist doch ein Ablenkungsmanöver? Oder?
Das weiß ich nicht, ich will auch nicht Fußballregeln vertiefen, doch der Regelverstoß und die Ungerechtigkeit, die liegen beieinander. Und wenn sich mein Blick verändert hat, dann definitiv dahingehend, dass er buchstäblich visuelle Ungerechtigkeiten auf die Spur geht. Im Hinblick auf gelingende Gesellschaft und Gemeinschaft interessiert mich vermehrt die Gleichberechtigung und Teilhabe. Teilhabe ist für mich das Gegenteil von Ausgrenzung und Norm und damit einhergehend Missachtung. Es gibt erstarkende Tendenzen, die Missachtung, Menschenfeindlichkeit und Ausgrenzung auch wieder ästhetisch zu zelebrieren, das erfolgt durch Werbung, Laufstege und Mainstream, Filme, TV, Medien oder Wahl- und Werbeplakate (Germany’s next Topmodel z.B.), aber auch neuerdings durch die Realität der Kriege und die dazugehörigen Kriegsbilder. Das passiert im Mainstream, wie in der Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung, in autoritären Regierungen und Gesellschaften. Kunstinstitutionen, Museen, Bühnen, Konzertsäle oder Kinoleinwände zeigen und artikulieren in demokratischen Ländern sehr viele dieser Missstände, es wird viel angesprochen und kann besprochen werden. Diese Debatten interessieren auch mich brennend, daran nehme ich teil. Gerade für kritische Debatten hat sich mein Blick geschärft. Zugleich jedoch macht es mich auch ohnmächtig und wütend, wenn ich erkenne, dass sich strukturell nichts oder nur so wenig verändert. Es macht mich ärgerlich, festzustellen, dass selbst bei Debatten über White Gaze z.B. (diese Debatten müssen unbedingt geführt werden) wir den Verfahrenstechniken der Normalisierung folgen, wir versuchen für das Thema oder besser Anliegen große Aufmerksamkeit zu generieren mit Methoden der Normierung. Weil wir die Erfahrung machen, nur so wird hingeschaut und hingehört. Aber genau dadurch gerät anderes wieder in den Hintergrund oder ins Abseits. . . Es gibt viel zu viel noch zu sehen im Abseits, deshalb hilft nur das genaue Hinschauen in allen Dimensionen. Dazu brauchen wir viele Augen und viel Dialog, viel Geduld und echte Gemeinschaft.
Thank you for talking to me.
Über die Autorin
Dramaturgin, Kuratorin, Autorin, studierte von 1988 bis 1993 Theaterwissenschaft, Philosophie und Musikwissenschaft in München. Anschließend arbeitete sie als Dramaturgin für verschiedene Festivals, Theater-/Tanzproduktionen und Performanceprojekte. Von 2001 bis 2008 war sie als Dramaturgin am schauspielfrankfurt im Festengagement. Sie lehrte regelmäßig an verschiedenen Hochschulen und Universitäten (München, Bochum, Frankfurt, Leipzig, Arnheim, Salzburg, u.a.) und kuratierte u. a. die interdisziplinären Veranstaltungsreihen Begehrte Körper (1999) und Moving Thoughts (2000) in Leipzig und die Ausstellung Open the curtain (2003) zu Kunst und Tanz im Wechselspiel an der Kunsthalle Kiel. Von 2009 an arbeitete sie als freie Kuratorin. Seit 2012 ist sie als Referentin für Tanz, Theater und Musik beim Goethe Institut tätig.
Veröffentlichungen: »Moving thoughts. Tanzen ist Denken«, (Hgg., Berlin, Vorwerk 8 2003); »Open the curtain. Kunst und Tanzen im Wechselspiel«, (Hgg., Kiel 2003); zahlreiche Fachartikel und Essays.