La Decolonial Performativa: Ein Aufruf zu Praktiken der Re-Existenz

At the RESHAPE conference in Ljubljana, in September 2021, Lebanese artist and writer Raafat Majzoub participated in a panel titled Decolonization and Degrowth, teil. In seinem Beitrag schlug er zwei Untersuchungsstränge als Reaktion auf die Überschneidungen zwischen Dekolonisierung und Degrowth vor :

 

 „Zum einen sind Probleme und Lösungen koloniale Rahmen, und um eine Dekolonisierung voranzutreiben, müssen wir aufhören, Probleme zu finden und versuchen, sie zu lösen. Zweitens müssen wir den Begriff der Knappheit als entscheidende Plattform angreifen, um über Wachstum, Degrowth, die Frucht unseres Daseins und unsere Lebensweise nachzudenken. „ [0]

 

Diese Paneldiskussion war eine Hybridveranstaltung, die live und online abgehalten wurde. Raafat Majzoub und Bojana Kunst waren per Zoom zugeschaltet, während die beiden anderen Teilnehmenden, Aadel Essaadani und Ajda Pistotnik, live vor einem Publikum saßen, in dem auch ich saß. Raafat konnte an diesem Tag nicht mit uns in diesem Raum sitzen, da ihm ein Visum für die Einreise nach Europa verweigert worden war. Der Grund, weshalb Bojana Kunst nicht dabei sein konnte, wurde nicht thematisiert. Ich war eingeladen worden, auf der Konferenz in einem anderen Panel mit dem Titel „The Art of Disobedience“ (Die Kunst des Ungehorsams) zu sprechen, in dem ich meine Gedanken über epistemischen Ungehorsam, indigene Wissensformen und dekoloniales Denken aus der Perspektive meiner künstlerischen Praxis vorgetragen hatte.

 

Bojana Kunst sprach vor Raafat Majzoub, dem dritten Redner auf dem Podium. Während ihres Vortrags fühlte ich mich irgendwie unwohl und durch etwas gestört, was sich nicht genau festmachen ließ. Irgendwas fühlte sich falsch an.

 

In diesem Text werde ich versuchen, den Ideen, die Raafats Vorschlag auslöst, eine Form zu geben. Ich werde versuchen, aktuelle Bedenken in Bezug auf das Schreiben über dekoloniale Kunst und den Begriff des Kampfes zum Ausdruck zu bringen, um ein kollektives Aktionsfeld vorzuschlagen.

 

Aus welcher Perspektive schreibe ich?

Ich schreibe aus einer europäischen Perspektive, in Hotelzimmern und Zügen (ich begann in Den Bosch in den Niederlanden und beende meine Aufzeichnungen jetzt in München, wo ich bin, um meine Arbeit vorzustellen). Ich schreibe auf Einladung von Sandra Chatterjee, die ich kürzlich kennengelernt habe und die ich bereits liebe. Ich schreibe aus der Perspektive einer Mestiza[1], einer Chi’ixi[2] , aus einer braunen Perspektive heraus. Aus einer meso- und südamerikanischen Perspektive in der Diaspora (ich habe mexikanische und chilenische Wurzeln), aus der Perspektive einer Tänzerin, ich komme aus der Praxis von Körper und Performance.

Ich schreibe dies in erster Linie für meine Schwestern: für weibliche und queere Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Kulturschaffende of Color, die zwischen Europa und „zu Hause“ leben und arbeiten. Das hier ist für euch:

 

Die Nullpunktperspektive

 

Ihren Vortrag begann Bojana Kunst zunächst damit, dass sie vor dem Vortrag eine Unruhe verspürt habe und dass sie dekoloniale Kunststrategien nicht als „Konzepte“ vorschlagen wolle, sondern lieber Dekolonisierung als eine Summe von „Kämpfen“ betrachten wolle. Sie zitierte kurz einige dekoloniale Denker[3]und fuhr dann fort, die dekolonialen Kämpfe in der Kunst aufzuzeigen und (wenn auch nicht beabsichtigt) eine Art Theorie der dekolonialen Kunst zu skizzieren, indem sie die Kämpfe darstellte, in denen sich Dekolonialität und Degrowth überschnitten. Wenn auch vielleicht nicht beabsichtigt, wurden diese Kämpfe als Konzepte angegangen, disloziert, entwurzelt, nicht verortet. Es handelte sich nicht um eine Beschreibung von etwas, das an einem bestimmten Ort passiert und von bestimmten Körpern produziert wird (etwas, das vielleicht in Europa stattfindet, von Künstler:innen, die bestimmte Erfahrungen wie Rassifizierung und/oder Migration teilen, die Verbindungen zum globalen Süden hatten oder haben, Schwarze und People of Color, queere, weibliche Künstler:innen usw.). Der Ursprung ihrer Analyse war nicht verortet, unsichtbar. Dadurch reproduzierten ihre theoretischen Beobachtungen den universalisierenden Kanon der westlichen modernen/kolonialen Wissensproduktion: einen Nicht-Ort der Artikulation Ausprechung.

 

Der kolumbianische Philosoph Santiago Castro Gomez nannte diesen Nicht-Ort “die Hybris des Nullpunkts"[4](La hybris del punto cero.. In seinem gleichnamigen Buch bezeichnet er diesen Ort als „die Arroganz des Nullpunkts desjenigen, der keinen Ort hat, der seine Subjektivität verleugnet, um im Namen aller zu sprechen“. Diese Idee des Nullpunkts steht im Zentrum des modernen Denkens und der Hegemonie des Westens. Auf diese Weise sprechen die westliche Geschichte und die westliche Wissenschaft, um zwei einschlägige Beispiele zu nennen, im Namen einer universellen Wahrheit, ohne ihre Situiertheit, ihre kulturelle Einbettung anzuerkennen, die möglicherweise nicht mit anderen übereinstimmt.

 

Raafats Idee, dass Probleme und Problemlösungen koloniale Rahmen sind, blieb lange als Idee in mir und war sogar schon vorher anwesend, als Intuition und als Erfahrung persönlicher Erschöpfung. „Ich bin nicht Exotisch, ich bin Erschöpft!”, sagte ich zu meinen Freunden und brachte sie zum Lachen über die Tatsache, dass wir uns oft in einem Kontext befinden, in dem man die einzige Person im Raum ist, die diese „banalen“ Formen kolonialer Gewalt wahrnimmt.

 

Eine Theorie der dekolonialen Kunst, oder die Theorie dekolonisieren:

Mit welchen Methoden werden wir über dekoloniale Kunst schreiben? Und könnte dies kollektiv geschehen?

 

Schreiben ist eine heikle Angelegenheit; Bücher und geschriebene Sprache haben im Laufe der Geschichte eine vorherrschende Rolle gegenüber der gesprochenen Sprache und den durch sie mündlich übermittelten Formen des Wissens eingenommen. Die geschriebene Sprache verkörpert eine gewisse Autorität. Das Prestige, das mit der Vorstellung verbunden ist, dass das Geschriebene die Wahrheit ist, geht auf das jüdisch-christliche Verständnis von Begriffen wie „Wort“ und „Buch“ zurück. Die koloniale Moderne und ihre Institutionen haben eine wichtige Rolle bei der Etablierung dieser weltweiten Überlegenheit des Schriftlichen gegenüber dem Mündlich übermittelten Wissen und den verkörperten Formen der Bezeugung, Aufzeichnung, Übermittlung, Beschreibung und Kommunikation gespielt.

 

Eine Theorie über etwas zu verfassen, eine Geschichte zu etwas zu schreiben, ist im modernen kolonialen Rahmen immer wieder auf eine Weise geschehen, die die Verbindung zur Idee des Ortes auslöscht. Dieser Nicht-Ort der Artikulation strebt nach Universalität und Urheberecht des Autors, durch Eroberung und Entdeckung. Dadurch wurde die Geschichte einer Europäischen Welt, die aus einer Eurozentrischen Perspektive geschrieben wurde, zur Geschichte „der“ Welt als Ganzes , eine Welt, die von Europa konzipiert und in den ehemaligen Kolonien als universell reproduziert wurde. In ähnlicher Weise wurde die Geschichte der europäischen Kunst oder des Tanzes zu „der“ Geschichte der Kunst oder des Tanzes. Dabei wurde die Tatsache, dass diese Geschichten verortet waren, dass sie von den Gewinnern des gewaltsamen kolonialen-extraktiven Kontextes aus einer lokalen Perspektive verfasst worden waren, ausgelöscht oder versteckt. Ich denkefühle, um über dekoloniale Kunst zu schreiben, um diesen „Kämpfen“ einen Platz zu geben, ist ein anderer Ansatz erforderlich. Eine dekoloniale Kunsttheorie oder eine Theorie der dekolonialen Kunst sollte auf andere Art und Weise vorgeschlagen werden, mit anderen Methoden, anderen Formen oder Strukturen, mit anderen Wegen, beeinflusst zu werden und andere zu beeinflussen, erdacht aus einer anderen Perspektive, aus anderen Orten, anderen Körpern, anderen Wissens- und Erfahrungskörpern, die das Wissen verkörpern können, das diesen „Kämpfen“ innewohnt. Am wichtigsten ist, dass sie verortet sein sollte. Sie sollte im dekolonialen Denken und in der dekolonialen Praxis verwurzelt sein, sonst wird sie von der Kolonialität vereinnahmt.

 

Selbst wenn Bojana Kunsts Absichten gut waren, könnte ihre anfängliche Sorge als eine Form der Ankündigung jener unsichtbaren Gewalt des akademischen Diskurses verstanden werden, als moderne/koloniale Tradition, die, wenn sie nicht absichtlich dekolonisiert wird, nur Konzepte hervorbringen kann, wenn auch unwillentlich.

 Die Art und Weise, wie sie die dekolonialen Konflikte in der Kunst ansprach, reproduzierte den kolonialen Diskurs aus einer unverorteten Distanz. Die „Werkzeuge des Meisters“ sind nicht geeignet, eine Bewegung zu beschreiben, die darauf abzielt, „das Haus des Meisters zu demontieren“. Die Tatsache, dass eine andere Person im Raum meine Erfahrungen mit der anderen Seite der „abyssal line"[5]von Moderne/Kolonialität ebenfalls kannte (eine Libanesin, die in Frankreich arbeitet) und somit meine Erfahrungen mit wohlbekannten Formen von Gewalt bestätigte, half mir, die Situation zu verstehen, die für den Rest des Publikums absolut unsichtbar blieb.

Das Unbehagen, das wir beide empfanden, hatte nichts mit der Hautfarbe der Sprecherin zu tun, sondern mit den Analysemethoden, den Werkzeugen, dem Beschreiben aus der Ferne, dem Kategorisieren aus einer Nullpunktperspektive heraus, mit der Reproduktion der Gewalt der Moderne.

 

 Blumen malen

 

Ich möchte Blumen malen“, sagte mir ein niederländischer Student des DAS-Theaters an der Amsterdamer Kunsthochschule De Amsterdamse Hogeschool voor de Kunsten während eines Workshops, den ich über dekoloniale Praktiken hielt. „Warum kann ich als Schwarzer nur politische Kunst machen?“, fuhr er fort. „Ich möchte einfach nur Kunst machen, ich möchte nicht politisch sein oder in meiner Kunst kämpfen müssen. Ich möchte nicht ständig gegen Unterdrückung kämpfen, wütend sein, weiße Menschen darüber belehren, was sie nicht sehen können, etc. Ich möchte das Privileg haben, einfach nur Kunst zu machen“.

 

Ich war die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens wütend, wütend auf den kolonialen Unterschied[6]wütend auf den barbarischen Abzug von Reichtum, der heute in meinen Herkunftsländern stattfindet, durch internationale Unternehmen, die indirekt den Reichtum und die Überlegenheit des globalen Nordens durch Diebstahl befeuern mit Hilfe der herrschenden Klassen vor Ort. Ich bin wütend auf die Verwüstungen, das Gift und die Krankheiten, die dieser Abzug hinterlässt. Wütend auf die Ungerechtigkeit, die nur diejenigen verstehen können, die diese Seite der Dinge oder dieses verwirrende und scharfe Dazwischen kennen. Wütend auf den Rassismus, auf das Weißsein als unsichtbare und doch sehr greifbare Ideologie der Macht. Ich bin in den 80er und 90er Jahren während des geopolitischen Mordes in Chile aufgewachsen. Ich bin wütend auf die Lügen, auf denen die Unterdrückungssysteme aufgebaut sind und wütend darauf, dass die Kunst im Kontext historisch gesehen ein Teil davon ist.

 

Eine französische Künstlerkollegin hat meine Arbeit einmal mit der Frage kommentiert: „Warum ist deine Arbeit so wütend?“ Sie besaß das Privileg, einfach Kunst machen zu dürfen. Unpolitische Kunst, die einfach nur von Ästhetik getrieben war, konzeptionelle Kunst. Ich hingegen besaß dieses Privileg nicht und betrachtete es auch nicht als solches, sondern eher als einen Mangel an sozialer Verantwortung. Eigentlich musste ich diese Art von Kunst machen, die sie als wütend empfand, weil ich sie nicht nur für mich machte, sondern mit und für andere Menschen – für andere Menschen und Orte, für die ich das Privileg besaß, sie in Europa vertreten zu dürfen. Sich der Funktionsweise des Gedankensystems Kolonialismus/Moderne bewusst zu sein ist wie Lesen lernen. Hat man das Lesen erst mal gelernt, kann man es nicht mehr verhindern.

 

In der Kunst war ich eine Kämpferin, die aus den Künsten heraus kämpfte, die historisch gesehen Teil der Pädagogik der Moderne/Kolonialität sind, um Platz für ihre Ausschlüsse zu schaffen. Meine Tänze wurden von dieser Wut angetrieben, von dem Wunsch, Machtstrukturen umzukehren, wenn auch nur vorübergehend; von dem Wunsch, Netzwerke der Solidarität mit Künstler:innen in Abya Yala aufzubauen. Kriegstänze gegen die Formen der Auslöschung und des Vergessens in der Moderne, Tänze des Protests, der Revolte, der Entfesselung sind meine Spezialität. Ich bin des Kämpfens müde, aber ich bin auch zu sehr mit diesen Themen beschäftigt, um nur „Blumen zu malen“.

 

Wenn Probleme und Problemlösungen koloniale Rahmen sind, bedeutet dies, dass man weiterhin versucht, ein Problem zu lösen, wenn man an dem Begriff des Kampfes festhält? Und welche alternativen Formen des Einsatzes würden es uns ermöglichen, diesen Rahmen zu verlassen und gleichzeitig Modi zu erschaffen, in denen wir existieren und den Welten eine Existenz geben wollen?

 

Widerstand? Re-Existenz? Formen des Widerstands praktizieren oder zur Re-Existenz übergehen?

 

Wir können nicht „einfach“ die Erfahrungen und Perspektiven vergessen oder auslöschen, die uns, wie der von mir erwähnte Student in Amsterdam zum Ausdruck brachte, „das Privileg verwehren, einfach nur Blumen zu malen“, aber wie können wir nachhaltige Strategien finden, um Gegenwehr als eine Art der Problemlösung zu vermeiden?

 

 Über den Begriff der Knappheit oder: „Hier war nichts“

 

Vor einigen Tagen sah ich mir online Video-Archivmaterial über eine deutsche Kolonie an, die in den 1960er Jahren in Chile gegründet worden war. In dem Video sieht man einen unberührten Wald, der bis zum Ende des Horizonts reicht, der um und zwischen den hohen Bergen und Vulkanen der mittleren südlichen Anden wächst, die das heutige Chile und Argentinien voneinander trennen. In dem Video ist auch ein Fluss zu erkennen, der durch die grünen Täler auf den Betrachter zufließt und einen breiten und kräftigen Strom bildet. Das Video stammt aus den 60er-Jahren. Die Off-Stimme einer der ersten „colonos“, der deutschen Siedler, ist zu hören:

 

„Als wir in diesem Land ankamen, war hier nichts, absolut nichts“.

 

Dieser Kommentar, der in dem Video als Untertitel zu einem der reichsten und vielfältigsten Ökosysteme der Erde zu lesen war, hat mich zum Nachdenken über Raafats Vorschlag gebracht, den Begriff der Knappheit anzugreifen.

What for the German settler colonial eyes was “absolutely nothing”, for the first nations communities living there was a sanctuary, full of presence, full of life, full of “Ngen”. The Ngen is one of the names for the hundreds of Earth beings still alive in Abya Yala today. Who are being defended by first nations communities and environmentalist groups, from the voracious appetite of neo-extractivist trans-national corporations. Nature spirits present in Mapuche ontology, which maintain the balance and order between what the west calls ‘nature’ and human beings.

Die Mapuche interagieren mit der Natur (Ñuke Mapu) durch Praktiken des Animismus mit den Ngen. Diese Praxis, zusammen mit der Verehrung der Ahnen, die Pillanes genannt werden, und der Verehrung des Ngenechén (höchstes Wesen der Mapuche-Spiritualität), sind die wichtigsten Kulte innerhalb der Mapuche-Ontologie.

Die deutschen Siedler fanden „nichts“ vor und fuhren fort, die Ngen in den gestohlenen Gebieten, die sie mit Hilfe der chilenischen Regierung erworben hatten, systematisch zu zerstören. Heute ist dieser Kraftort oder Ngen völlig geschwächt, zerstört durch die koloniale, monokulturelle Forstwirtschaft der Siedler.

 

Die Lösung des Problems der Armut, ein neokoloniales Beispiel

 

Als ich etwa 14 Jahre alt war, beschlossen meine Mutter und ihre Freunde, an einer der ersten Umweltdemonstrationen gegen ein „Entwicklungsprojekt“ teilzunehmen, einen Wasserkraft-Staudamm, der in den Hochlagen eines der wichtigsten Flüsse im Süden Chiles errichtet werden sollte. Das spanische transnationale Unternehmen ENDESA hatte die chilenische Elektrizitätsgesellschaft und damit auch die Wasserrechte am oberen Bio-Bio-Fluss gekauft. Diese Rechte waren ursprünglich während der Diktatur erworben worden, und im Rahmen der neo-(kolonialen) liberalen Marktwirtschaft war geplant, den Fluss auf dem Land des indigenen Volks der Pehuenche zu stauen. Wir gingen mit etwa 300 Frauen dorthin, um den Fluss, Seite an Seite mit den Pehuenche-Gemeinden, zu verteidigen. Wir kampierten an den Ufern des Bio-Bio-Flusses, dessen Name heute eine völlig neue Bedeutung hat, es war um 1999.

Der Bio-Bio war und ist immer noch der wichtigste Fluss in Chile, ein großes Gewässer, das in den Gletschern der Anden entspringt und sich immer weiter ausdehnt, bis es den Pazifischen Ozean in dem Gebiet erreicht, in dem sich heute die Stadt Concepción befindet.

 

Die Argumente für den Bau des Staudamm zur Stromerzeugung lauteten Entwicklung, Fortschritt und die Bekämpfung der Armut in der Region. Strom für die Pehuenche-Gemeinden und Arbeitsplätze, gut bezahlte Arbeitsplätze.

 

Nicolasa Quintreman[7] , selbst Mitglied der Pehuenche, war zusammen mit ihrer Schwester Berta eine der wichtigsten First Nations Vertreter:innen, die sich gegen das Projekt aussprachen. In einem Interview, das am 8. März 1999 in der Zeitung Diario El Sur veröffentlicht wurde, erklärte sie:

 

„[...] früher waren wir ruhig, friedlich und konnten gut schlafen. Jetzt arbeiten wir nicht einmal mehr, weil wir darum kämpfen, das zu verteidigen, was uns gehört. Das hier ist enorme Zerstörung... Ich werde nicht weich werden wie die anderen, meine Zukunft wird immer dieselbe sein, ich werde sie nicht ändern.“

Und dann erklärte sie, warum sie den Tausch ihres Grundstücks nicht akzeptiert hat: „Ich bin nicht an Geld oder an einem Haus mit Küche interessiert. Ich habe mein Haus, meinen Herd und mein Land, um es zu bewirtschaften. Ich will auch nicht das Licht, das sie anbieten, ich habe die Sonne... Das reicht mir.“

 

Nach den Mobilisierungen gegen den Damm und all unseren Bemühungen, den Bau zu verhindern, nach Straßenblockaden und Demonstrationen in Santiago, Temuco und Concepción, wurde der Damm schließlich gebaut.

Nicolasa Quintreman, die sich jahrelang für einen freien Flusslauf des Flusses eingesetzt hatte, den sie so liebte, musste dem Entschädigungsangebot des Unternehmens zustimmen. Der traditionelle Friedhof, auf dem die Pehuenche seit Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden, ihre Toten begraben, wurde von der Gesellschaft ohne jede Entschuldigung geflutet.

 

Heute zahlen die Bewohner:innen des High Bio-Bio-Flusses den teuersten Strom im ganzen Land. Nach dem Bau des Staudamms gibt es für sie keine Arbeit mehr. Der Damm wird nur 60 Jahre halten, weil die Sedimente eine Art Sumpf bilden werden, der den Fluss behindern wird.

 

Das Argument, das Problem der Armut lösen zu wollen, trug zum Tod der Ngen des Bio-Bio-Flusses bei und versetzte das einst autarke der Pehuenche communities in einen Zustand ständiger existenzieller Not. Die von der Firma und dem Staat angebotene Lösung für das erfundene Problem der Armut der Pehuenche bestand darin, sie vollständig zu enteignen.

 

Jahre später wurde Nicolasa Quintreman tot in dem See gefunden, gegen den sie sich so sehr gewehrt hatte.

 

Auf der Suche nach den Geistern der Erde

 

Eine Kampfparole der Frauen während der Demonstrationen lautete: “Newén Lefú!”

Übersetzt bedeutet sie „Stärke des Flusses“, aber es gab auch andere, weniger gebräuchliche, ebenso wichtige Parolen, die sich auf die Ngen vor Ort bezogen, die Ngen-Ko (Geister des Wassers), oder auf die Newén Lefú (Stärke des Flusses).

 

Während des Protestcamps wurden wir eines nachmittags neben dem Fluss von einer enormen und besonders dichten Artenvielfalt überrascht. Es war vermutlich die größte Artenvielfalt, die ich in meinem Leben je gesehen habe und je sehen werde.

Der Ngen wird in der Übersetzung aus dem Mapudungun als ein „Geist“, als „Naturkraft“, als „Wesen“ beschrieben, das meiner Meinung nach nur dann existieren kann, wenn die biologische Vielfalt so engmaschig und reichhaltig ist, dass der Ort bei den Bewohnern eine Art Demut hervorruft. Ein ruhiges Glücksgefühl, in der Gegenwart der anderen zu sein.

Ich habe über die Ngen im Zusammenhang mit dem Begriff der Knappheit nachgedacht, der die Integrität ihrer Fülle systematisch angegriffen hat. Ich habe versucht, sie zu verstehen und in die Sprache meines „Dazwischenseins“ zu übersetzen.

Aus meiner Perspektive der Mestizen habe ich verstanden, dass die Ngen, wie viele andere Erdwesen, die heute noch in Abya Yala leben, die verbliebenen Geister in einem unverfälschten Ökosystems Erde sein könnten.

 

Ein Holobiont wird in der Biologie als eine Einheit beschrieben, die durch die Verbindung verschiedener Spezies entsteht, die ökologische Einheiten bilden. Ich denke, die Ngen sind einem Holobionten ähnlich, allerdings in Beschreibung einer anderen ontologischen Sprache/Perspektive. Er existiert als die Summe aller Wesen, aus denen es besteht und die er beherbergt, und dieser immense Reichtum bildet die Ngen als spirituelle Einheit.

 

Als ich nach Europa auswanderte, vermisste ich oft die Erde. Immer, wenn ich dies zur Sprache brachte, antworteten meine europäischen Freunde: „Geh doch in den Park“, „geh in die Natur“, und ich weiß noch, dass ich mich mit dieser Antwort sehr unwohl fühlte. Wie hätte ich meinen Freunden etwas erklären können, wofür ich 20 Jahre gebraucht hatte, um es zu verstehen? Was ich vermisste, war die Anwesenheit eines Ngen, eines Wesens, das schon lange verschwunden war, ermordet durch die lange Geschichte der Ausbeutung und des Raubbaus an der Natur, die zuerst in Europa stattfanden und sich dann auf die „neue Welt"“ausweiteten.

 

Ein „armer“ Bauernhof: künstlerische Residencies „zu Hause“ einrichten

 

Eine Künstlerkollegin aus Sri Lanka, die ich auch als Dozentin an der Amsterdamer Kunsthochschule kennengelernt hatte, erzählte mir von ihrem Zuhause in Sri Lanka, einem Bauernhof, der reich an Wasser und Vegetation ist und den sie früher für einen „armen“ Bauernhof gehalten hatte. „Wir, also meine Familie, verdienen damit kein Geld, aber wir können von dem leben, was wir produzieren... Langsam fange ich an, den Ort mit anderen Augen zu sehen. Hier in Amsterdam gibt es keinen solchen Reichtum... Ich möchte dort in Zukunft einen Schaffensort für Künstler:innen einrichten“.

 

Ich glaube, die Idee, künstlerische Schaffensorte „in der Heimat“ einzurichten (auch wenn diese Heimat für einige in ihrer Familiengeschichte weiter zurückliegt), ist ein Traum für viele Künstler:innen of Color, die in Europa arbeiten und leben. Einige wagen es, zurückzugehen und in der so genannten Dritten Welt zu arbeiten, in sogenannten „armen Farmen“, wo es schwierig ist, Geld zu verdienen, aber die Ngen stärker sind.

 

Eine Alternative zum „ständigen Kampf“ oder dem „Nur Blumen Malen“

 

Para la ecología indigena Wixarika[8] no es que se están acabando los recursos, sino que no se está trabajando suficiente en la creación del mundo

 

"Für die indigene Ökologie der Wixarika werden nicht die Ressourcen knapp, sondern es wird nicht genug für die Gestaltung der Welt getan".

Johannes Neurath [9]

 

Die Tatsache, dass sich das Klima verändert und die Dinge aus dem Ruder laufen, ist nach indigenem Verständnis nicht darauf zurückzuführen, dass die Menschen die Erde zerstören, sondern im Gegenteil darauf, dass sie sich nicht genügend auf Rituale einlassen, die das Leben wiederherstellen.

Für die First Nations Ontologien des Kontinents ist die Welt kein selbstverständlicher Ort, sondern muss neu erschaffen werden und benötigt Unterstützung für den Erhalt.

 

Die Rituale der First Nations von Abya Yala zielen darauf ab, die Ursprünge der Welt neu zu erschaffen, sich an eine bestimmte Position zu erinnern, durch die wir mit der Welt in Beziehung treten, die Welt neu erschaffen und mit ihr unsere Körper neu erschaffen. Diese Rituale finden im Zusammenhang mit dem Ort, dem Kosmos, den Pflanzen, den Tieren, den Bergen, den Flüssen und Felsen, den Bergen, den Ozeanen und den Gletschern statt.

 

So gesehen helfen die Praktiken der Opfergabe an die Erdwesen, die in Abya Yala der First Nations noch immer praktiziert werden, das Lebendige anzuerkennen und die Wasserströme, das Wachstum der Pflanzen und die Erfahrung von zwischenmenschlichen Beziehungen zu unterstützen.

 

Es reicht nicht aus, Dinge im Theater oder im Museum zu tun, sondern es ist unerlässlich, sich wirklich auf eine Kunst einzulassen, die das Leben neu erschafft - durch Rituale, aber auch durch Praktiken einer dekolonialen Ökologie, die nicht anthropozentrisch ist und nicht vom Narrativ der Moderne/Kolonialität durchdrungen ist.

 

La decolonial performativa

 

Wie werden wir, Künstler:innen, Denker:innen, Praktiker:innen des Decolonial Thought, die Bedingungen unseres eigenen Tuns definieren? Mit welchen Prämissen werden wir über dekoloniale Strategien nachdenken oder schreiben? Und, was noch wichtiger ist: Werden wir unsere eigenen Rahmen und unseren eigenen Kontext erschaffen?

 

In Gesprächen mit meiner Freundin und Kollegin Rani Nair stellte ich mir vor langer Zeit einen Kontext vor, in dem wir uns treffen und das Leben als dekoloniale künstlerische Praktiken teilen, diskutieren, erschaffen und neu erschaffen – durch Rituale, durch Opfergaben, durch Affekte, in Europa, aber auch und an Orten „zu Hause“, Orten der Extraktion. Ein Netzwerk aus Künstler:innen of Color mit diasporischen Identitäten, die sich zwischen den Welten bewegen., um endlich Brücken für uns selbst zu sein, die wir zu den Orten schlagen können, die uns am Herzen liegen.

 

Kunst an Orten des Raubbaus

 

Eine Bewegung wie La decolonial performativa, eine Allianz zwischen Künstler:innen, BPOC-Denker:innen und Praktiker:innen des Decolonial Thought , könnte bei den europäischen Institutionen eine Debatte über die Bereitstellung von Finanzmitteln für kulturelle Initiativen an den Orten der Extraktion, die ihre Wirtschaft und den Green New Deal befeuern.

 

Dieser Artikel soll Ihnen, den Leser:innen, eine Anregung sein, ins Gespräch zu kommen. Über Probleme und Problemlösungen, Kämpfe, Reichtum und Knappheit auf eine andere Art und Weise nachzudenken, unser Tun im Gespräch zu definieren und sich auszutauschen über den reinen Kunstkontext hinaus, in dem wir in Europa arbeiten. Eine Begegnung und einen Raum zu schaffen, in dem wir fühlendenken und in dem wir uns gegenseitig inspirieren können, jenseits von Akademien, Museen und Theatern, denn sie sind Teil der Pädagogik der Moderne, Orte der Konzepte, Abstraktionen und Entwurzelung.

 

An diesen Ritualen teilzunehmen, alternative Denkweisen, alternative Formen des Werteverständnisses zu schaffen; und warum nicht, eine Gruppe, die helfen könnte, die Erde aufzubauen, zu befruchten und unsere Energien zu erneuern.

 

Ein Treffen, bei dem wir Strategien aufzeigen könnten, um Formen kollektiver Praxis zu definieren, die sich nicht um die Lösung von Problemen bemühen, sondern sich aktiv mit der Neugestaltung des Lebens in Europa, aber auch „zu Hause“ befassen.

 

Zitiervorschlag
Piña, Amanda. 2021. “La Decolonial Performativa: A call for practices of re-existence.” In: Moving Interventions 1: Ambiguous Potentials // Performative Awakenings, December 2021. Edited by / Herausgegeben von: Sarah Bergh and Sandra Chatterjee, with Ariadne Jacoby (CHAKKARs -Moving Interventions), translated by: Anja Tracksdorf, copyedited by: Veronika Wagner. Published by / Veröffentlicht von CHAKKARs – Moving Interventions.

 

[0] MajzoubRafaat. Certain Things Need to Be Said if One is to Avoid Falsifying the Problem. Decolonisation, Degrowth and Art, round table discussion. RESHAPE Conference.  Stara Mestna Elektrarna- Ljubjana, 24 September 2021 https://reshape.network/event/certain-things-need-to-be-said-if-one-is-to-avoid-falsifying-the-problem-decolonisation-degrowth-and-art.https://www.youtube.com/watch?v=qr-TcpS2qy4  

[1] Anzaldúa, Gloria – Borderlands, La Frontera, The new Mestiza, San Francisco, Aunt Lute Books, 1999.

[2] Rivera Cusicanqui, Silvia- Un Munod Chiixi es posible, Editorial: TINTA LIMÓN 2018

[3] Aimé Césaire and Nelson Maldonado Torres

[4] Santiago Castro Gomez, la Hybris del Punto cero:Ciencia, raza e ilustración en la Nueva Granada (1750-1816) (Spanish Edition) 2010

[5] Boaventura de Sousa Santos, the abysal line of Modernity, La hybris del punto cero: Ciencia, raza e ilustración en la Nueva Granada (1750-1816) (Spanish Edition) 2007

[6] Colonial difference, Beyond Abyssal Thinking: From Global Lines to Ecologies of Knowledge .January 2007 Revista Critica de Ciencias Sociais 30(1)https://www.jstor.org/stable/40241677

[7] Quintreman,Nicolasa, https://elpais.com/elpais/2014/02/20/planeta_futuro/1392913018_924314.html

[8] Wixarika,https://en.wikipedia.org/wiki/Huichol

[9] Neurath, Johannes Cosmopolítica y cosmohistoria: una anti-síntesis, Martínez Ramírez y Neurath, Colección: Paradigma indicial, ISBN: 978-987-8384-65-8

Über die Autorin

Amanda Piña ist eine mexikanisch-chilenisch-österreichische Choreografin, Tänzerin und Kulturarbeiterin, die in Wien und Mexiko-Stadt lebt. Ihre Arbeit beschäftigt sich mit der Entkolonialisierung von Kunst, wobei sie sich auf die politische und soziale Kraft der Bewegung konzentriert. Sie versteht ihre Arbeiten als zeitgenössische Rituale, die etablierte Trennungen (modern/traditionell, Mensch/Tier, Natur/Kultur) temporär aufheben sollen und ist auf der Suche nach neuen Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Kunst. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in der Fondation Cartier pour l’Art Contemporain Paris, MUMOK Museum of Modern Art, Tanzquartier Wien, ImpulsTanz Festival, Royal Festival Hall in London, Museo Universitario del Chopo in Mexiko Stadt und HAU – Hebbel am Ufer in Berlin gezeigt. Seit 2008 leitet sie den Galerieraum nadaLokal in Wien, den sie gemeinsam mit dem Schweizer Visual Artist Daniel Zimmermann eröffnete, mit dem sie auch nadaproductions gründete. Derzeit arbeitet sie an der Realisierung des Langzeitprojekts ENDANGERED HUMAN MOVEMENTS. Endangered Human Movements, concerned with the re appearance of ancestral forms of  movements and cultural practices. Four volumes of research in the scope of this project have been already realised which include performances, Installations, Videos, publications, curatorial frames, workshop and lectures. She is a research fellow at DAS THIRD, from the department of Theatre, Dance and Performance at Amsterdam University of the Arts.

Relevant Interviews:

https://e-tcetera.be/dancing-with-a-deer-a-jaguar-or-a-snake/

Amanda Piña

Vienna / Mexico City

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