Warum Intimität der Bereich ist, in dem Tanz in der Entwicklung der Menschheit in einer globalisierten, kapitalistischen Welt deutlich wird
"Der Körper ist der Nullpunkt der Welt. Der Ort, an dem sich Wege und Räume kreuzen. Der Körper selbst ist nirgendwo. Er ist der winzige utopische Kern inmitten der Welt."[1]
In Wirklichkeit ist mein Körper immer irgendwo anders. Mit allen anderen Orten in der Welt verbunden. In Wirklichkeit ist mein Körper immer woanders. Er ist irgendwo an-ders auf der Welt. In Wirklichkeit ist mein Körper immer irgendwo anders...
Der Körper ist der Nullpunkt der Welt. Der Ort, an dem sich Wege und Räume kreuzen.
Ich stimme der Aussage Foucaults zu.
Da ich mit einem Körper geboren wurde, der sowohl deutsches als auch chinesisches Erbe und Wurzeln in sich trägt, war ich schon immer mit Rassismus konfrontiert. Ich war mir dessen lange Zeit nicht bewusst, weil ich in mir selbst, in meinem Körper und durch mein Lebensgefühl immer mit allem, was mich umgab, verbunden war. Menschen, Natur, Ideen.
Deutsch zu sein (being), ohne deutsch zu sein (beeing), war schon immer ein Aspekt meiner Persönlichkeit und Identität, der mich gestärkt hat.
Auch hat mich dieses „Fremdgemachtwerden“ gestärkt, anstatt negative Gefühle auszulösen.
Das war ich schon immer: Irgendwo anders. Mein Körper war schon immer ein Nullpunkt in der Welt – der Ort, an dem sich die Wege und Räume meiner Herkunft/Herkünfte und meiner Wurzeln kreuzen.
Rassismus hat mich nie gestört, weil ich nicht dazu erzogen worden war, mich von Rassismus angegriffen zu fühlen. Ich war ich. Und das war gut so. Nichts außer MEINEM Körper ist wichtig (wenn ich tanze).
Der Körper ist der Nullpunkt der Welt. Der Ort, an dem sich Wege und Räume kreuzen. Wenn wir diesen Gedankengang fortsetzen und den Körper so sehen, ist Intimität der Raum, in dem ich dieses „Nichtsein“ mit jemand anderem teilen kann. Wenn beim Tanzen der Körper immer irgendwo anders ist und dein Körper immer irgendwo anders ist, dann werden unsere Körper zum Nullpunkt der Welt, zum Ort, an dem sich Wege und Räume kreuzen:
Wenn wir tanzen, gelingt es uns, gemeinsam ein Nullpunkt in Raum und Zeit sein.
Intimität erlaubt es meinem Körper, im Hier und Jetzt, im Nichts, in der Gegenwart, „einfach zu sein“. Intimität bedeutet für mich, dem Wesen zu erlauben, einfach nur zu sein… nichts weiter. Ohne Absicht und nicht in einem produktiven Zustand des Seins.
Praktisch bedeutet Intimität, mir selbst mit allen Sinnen zuhören zu dürfen und den analytischen Verstand, das Ego, zur Ruhe kommen zu lassen.
Genau das können wir auf der Bühne tun. Wir hören gemeinsam allen Körpern auf der Bühne und in der nahen Umgebung der Bühne zu. Aus diesem Grund können wir die Bühne für dekolonisierende und empowernde Interventionen nutzen. Wir können sichere(re) Räume schaffen, in denen sich Menschen auf Basis intimer Verbindung(en) treffen können, und diese Räume können es allen ermöglichen, wertendes Denken und gesellschaftliche Kategorien zu überwinden. Die Bühne kann uns von der Autorität einer globalisierten und kapitalistischen Welt befreien. Die Bühne kann die Brücke sein zwischen der intuitiven, uralten Weisheit unseres Körpers und der unverständlichen, komplexen Welt, die uns zwingt, uns von unseren Egos leiten zu lassen.
Das Ego löst sich im Wasser unseres Körpers auf, im Wasser in unseren Zellen. Das Ego löst sich in dem uralten Wissen unseres Körpers auf und versucht daher nicht mehr, die Vollkommenheit in sich selbst zu finden, sondern in der Allverbundenheit des Wassers in allen Menschen. Im Wasser spielen diese Kategorien keine Rolle mehr.
Wenn ich mit mir selbst intim bin und mich im Hier und Jetzt wirklich mitteile, wenn ich mich für andere, für andere Menschen öffne, dann entsteht Intimität. Wenn ich in der Lage bin, Bewertungen und Kategorien loszulassen, wenn ich „dem anderen“ mit einem ungezähmten Geist begegnen kann, mit frischem Blick und mit dem Wissen um koloniale Strukturen und mit der Absicht, sie verschwinden zu lassen – dann lasse ich Intimität zu. Es ist dieses Zulassen und dieses Bekenntnis zur Intimität, das uns menschlich macht.
Der Philosoph Emmanuel Levinas formulierte den nicht einfachen Gedanken:
"Die Transzendenz des Anderen, die seinen [...] Ruhm ausmacht, schließt in ihrer konkreten Bedeutung sein Elend, seine Heimatlosigkeit und das Recht ein, das ihm als Fremdem gehört."[2] Levinas betrachtet die Ethik und das Individuum in Begriffen von Unverfügbarkeit. Ein Denken, das bereits in Martin Bubers[3] Philosophie zum Ausdruck kommt, nämlich dass das Ich erst durch das Du zum Ich wird. Levinas verstärkt diesen Gedanken, dass das eigene Denken, Sprechen und Sein nur durch den Anderen möglich ist, indem er den Anderen nicht als stark und mächtig, sondern als schwach, verdrängt und fremd erkennt.
Ich habe lange Zeit meines Lebens als Tänzerin in der Welt des klassischen Balletts verbracht. Da ich in sehr hierarchischen, rassistischen und sexistischen Institutionen ausgebildet wurde, bin ich nach einiger Zeit sehr defensiv und hart geworden, sowohl was meinen Geist als auch meinen Körper betrifft.
Es war ein langer Prozess der Heilung und der Einsicht, dass es nicht meine Schuld war, ein Körper zu sein, einen Körper zu haben, der nicht weiß ist, nicht zu wissen, wie das erwünschte Stereotyp einer Ballerina aussah und dass nicht ich eine Außenseiterin war, sondern dass hier das System versagt hat.
Es hat lange gedauert, bis ich verstand, dass die Lehrer und Direktoren, mit denen ich arbeitete, selbst schwach, vertrieben und fremd waren. Sie scheiterten, weil das System sie nicht besser ausbilden konnte. Es bedurfte intimer Handlungen ihnen und mir gegenüber, um die fehlende Verfügbarkeit dieser anderen zu begreifen.
Und hier komme ich noch einmal auf Foucault zurück: Die Entscheidung, Intimität zuzulassen, kann zu einem utopischen Kern im Zentrum der Welt werden. Durch die Entscheidung, mein Ich durch das Du zu definieren. Unsere Egos lösen sich im Wasser unserer Körper auf, unsere Egos lösen sich im uralten, kollektiven Wissen unserer Körper auf und versuchen des-halb nicht mehr, Vollkommenheit in sich selbst zu finden, sondern in der Allverbundenheit innerhalb der gesamten Schöpfung.
Ein Zustand, in dem nicht mehr Kategorien von Interesse sind, sondern - und da sind wir wieder bei Levinas - die ungezähmte Vielfalt des Anderen, des Anderen in seiner Armut, in seinem Elend, in seiner Verletzlichkeit.
Die Realität, die der Mensch geschaffen hat, hat diese Verbundenheit verloren, da die rationale, globalisierte und kapitalistische Welt keinen Raum für Intimität zulässt. Deshalb brauchen wir ein neues Konzept von Intimität, das sich auf den Zustand der Erholung und der „Unproduktivität“ des Körpers bezieht.
Intimität ist etwas, das wir nur teilen können, wenn wir in einen Zustand der Ruhe zurückkehren und uns auf das Wesentliche im Leben besinnen. Es geht darum, unserem inneren Selbst, unserer „nicht reproduzierbaren magischen Seele“, unserer Aura, dem prähistorischen Element in jedem Menschen, Wert beizumessen.
Dies ist natürlich kein produktiver Zustand, wenn man ihn durch die Brille der Globalisierung und einer kapitalistischen Gesellschaft betrachtet. Es würde bedeuten, dass wir uns von einem System der Produktivität und Ausbeutung befreien müssten. Und genau das ist der Grund, weshalb Intimität etwas so Zerbrechliches ist. Wenn wir uns selbst treu sind, werden keine Dollars produziert. Das heißt, wann immer es einen intimen Moment gibt, der nicht dem globalisierten Produktionssystem dient, löst er sich in Luft auf. Genau deshalb ist das Konstrukt der Intimität so wichtig, und deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein und darauf achten, wann die Politik eingreift und die Zonen und Räume kontrolliert, in denen Intimität möglich ist.
Meine eigene Politik der Intimität:
Intimität lässt sich nicht mit meinem Verstand und meiner Rationalität analysieren. Sie ist ein Bauchgefühl, ist die Intelligenz meiner Zellen, das Zellgedächtnis.
Letztlich ist Intimität, von einem biologischen Blickwinkel aus betrachtet, die Erinnerung daran, im Mutterleib sicher, geschützt und versorgt zu sein. Unser ganzes Leben lang versuchen wir, zu diesem Zustand der unendlichen Liebe und Sicherheit zurückzukehren. Intimität ist ein Raum, ein Gefühl, eine Empfindung, eine Sehnsucht.
Etwas, das wir alle im Laufe unseres Lebens zu finden versuchen, mit dem wir uns aber oft schwer tun. Wir wissen nicht, wie wir unsere Intimität definieren sollen und wir wissen auch nicht, wo unsere intimen Räume stattfinden.
Während meiner Arbeit als Hospizhelferin habe ich Menschen beim Sterben begleitet. Ich erkannte eine starke Verbindung zwischen Menschen, die diese Welt verlassen, und neugeborenen Babys. Es geht darum, wie sie SIND. Sie sind im Zustand des Seins. Sie sind, ohne sich des Seins bewusst zu sein.
Die ganze Erfahrung ist sehr direkt und stark. Man kann die Intelligenz und den Geist des Körpers in den Zellen, im Fleisch, in der Haut, in allem spüren.
Das ist der Raum, in dem ich Intimität sehe und erfahre.
Wir müssen uns erlauben, im Hier und Jetzt zu sein, ohne bewertet oder in eine bestimmte Kategorie eingeordnet zu werden. Jedes Mal, wenn ein Kind geboren wird oder ein Mensch stirbt, passieren wir diesen Zustand des Hierseins und der Verletzlichkeit. In gewisser Weise sind wir für die andere Seite transparent und haben keine Identität mehr.
Ich denke, dass Intimität sehr viel mit dem zu tun hat, was ich einen metaphysischen oder spirituellen Zustand nenne. In dem wir uns erlauben zu sein. Einfach als Wesen. Ohne uns als Menschen zu definieren, ohne Identität.
Ich denke, dies ist der tröstlichste und in unserer kapitalistischen und rationalen Zeit der wichtigste Zustand, den wir als Gesellschaft definieren und neu definieren müssen. Der Intimität Raum geben, Verletzlichkeit zulassen, den Menschen erlauben zu zeigen, was sie wirklich sind. Wenn wir uns selbst erlauben, einfach zu sein, mit allem, was ist, und wenn wir eins mit der Natur sind, erlauben wir uns, mit dem Puls des Universums zu fließen. Wir erlauben uns, den Rhythmus der Erde zu spüren. Wir lassen dann unseren analytischen Verstand los, der uns ständig sagt, was wir zu tun haben und wie wir uns kontrollieren sollen.
Für mich ist Intimität ein spiritueller Zustand des Seins, Intimität ist der Raum, in dem wir unser wahres Selbst finden können.
Politische und rationale Entscheidungen haben einen großen Einfluss auf uns. Intimität bedeutet zu sehen, wo unsere Gesellschaft im Moment steht.
Wir müssen uns durch Intimität selbst empowern. Missbrauchssituationen, alle verletzen-den Intimitäten, häusliche Gewalt, Ausbeutung und Isolation werden als Dynamiken akzeptiert, die wir geschaffen haben. Aber nur wir selbst können uns dazu bemächtigen, uns zu verändern. Wir dürfen uns in verletzlichen Situationen befinden, in denen wir uns schämen, klein oder unwürdig fühlen. Denn das ist „normal“, weil wir damit Intimität zulassen.
Wir müssen uns an unsere eigene Würde und die Kraft der Veränderung erinnern und deshalb unsere Konstruktionen des Miteinanders ändern.
Die Menschheit muss wieder zu einem Schwarm werden und sich wieder mit der Schwarmintelligenz verbinden.
Mein persönlicher Moment des Aufwachens bestand darin, mir selbst Intimität zu erlauben. Mich vom produktiven System der Ballettwelt und später auch von der globalisierten Welt zu lösen. Darauf zu vertrauen, dass mir durch die Schwarmintelligenz die richtigen Menschen, Ideen und Handlungen begegnen werde. Ich denke, dieses Aufwachen ist ein Prozess, der nie endet. Und ich arbeite daran und spiele jeden Tag damit.
Ich bin aufgewacht, als ich verstanden habe, dass das Ich nur durch das DU existiert - dass ich jenseits von Kategorien existiere.
Zitiervorschlag
Ma, Hannah. 2021. “Why intimacy is the sphere where Dance becomes evident in the evolution of human kind in a globalized, capitalist world.” In: Moving Interventions 1: Ambiguous Potentials // Performative Awakenings, December 2021. Edited by / Herausgegeben von: Sarah Bergh and Sandra Chatterjee, with Ariadne Jacoby (CHAKKARs – Moving Interventions), copyedited by: Veronika Wagner. Published by / Veröffentlicht von CHAKKARs – Moving Interventions.
[1] Michel Foucault (2006): “The utopian body.” In: Sensorium. Embodied experience, technology, and contemporary art. Edited by Caroline A. Jones, Cambridge, MA. The MITpress, pp. 232-233.
[2] Levinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität. Freiburg, München, Verlag Karl Alber, pp. 103.
[3] Buber, Martin (1997): Ich und Du. Gerlingen, Verlag Lambert Schneider.
Über die Autorin
Hannah is a German/Chinese choreographer. She was born in Berchtesgaden, Bavaria in Germany. Her focus is on contemporary rituals and the translation of archaic roots within our society. Her works are divided in twochoreographic directions: “Taming Monsters” and “Transformances”.
Hannah reflects on eurocentrism, (post-)colonialism, racism, sexism and focuses on diversity mainstreaming, empowerment of feminist actions and gender fluidity. Her choreographic language is creatively mixing elements of dance and theatre, of ballet, dance theatre and performance.
Hannah is and has been working with and been supported by:
Théâtre National Luxemburg; Trois C-L | Choreographic Center Luxemburg;Ruhrfestspiele Recklinghausen; the German Unesco Commission; Festival Passages Metz; German Consulate General New York; Dachverband TanzDeutschland; Fonds Darstellende Künste; Arp Museum am Rolandseck; UJ Arts & Culture Johannesburg; National Arts Festival South Africa; MAC Creteil Paris; and others.
In addition to her work as an artist, producer and curator, Hannah has also worked as a hospice helper since 2021.