Paranoider Wahn: Was es heißt, eine Außenseiterin im zeitgenössischen Tanz zu sein

Ich arbeite gerade an einer neuen Performance. „Was für eine Art von Tanz ist das?“ ist die erste Frage, die mir Freunde und Verwandte stellen, die nicht in der Kunstbranche tätig sind. Ich zögere und es nervt mich, dass mich diese Frage noch immer so aus der Bahn wirft. Ich weiß, dass sich Menschen während unseres Gesprächs ein Bild davon machen wollen, was ich eigentlich tue. Problem ist nur, dass ich einfach nichts sagen kann, was meine Arbeit gleichzeitig klar, verständlich und ehrlich beschreibt. Bharatanatyam ist es nicht, so viel steht fest. Also was dann?

Der zeitgenössische Tanz ist eine kolonisierende Kraft. Im Vereinigten Königreich hat er sich jahrzehntelang einer Definition entzogen und alles absorbiert, was sich ihm in den Weg stellte. Entweder ist Tanz eine festgelegte Ausdrucksform wie Kathak oder Hip-Hop oder Ballett, oder es handelt sich um „zeitgenössischen Tanz“. Mit jeder kleinen Abweichung von der festgelegten Ästhetik gilt ein Tanzprojekt ebenfalls gleich als zeitgenössisch. Obgleich es zugegebenermaßen ein Verdienst ist, dass ein im Kathak verwurzeltes Werk als „zeitgenössisch“ akzeptiert wird, dass es frei sein eigenes Genre bestimmen kann, anstatt von Außenstehenden bevormundet zu werden. Dennoch bleibt es ein toxisches Machtspiel, das Tanzprojekten Legitimität verleiht, wenn sie mit zeitgenössischem Tanz in Verbindung gebracht werden können. Selbstbestimmung zum Zwecke einer Verbindung mit einer kolonisierenden Kraft ist nicht befreiend. Das Schlimmste an der Sache ist, dass sich Vertreter des zeitgenössischen Tanzes weigern, ihre hegemoniale Stellung in Bezug auf Infrastruktur, Praktiken und Ästhetik im Tanzsektor anzuerkennen und ihre eigenen kodifizierten Praktiken mit einem Begriff verschleiern, der „gegenwärtig“ bedeutet. Nicht einmal das C in Contemporary Dance wird groß geschrieben. Indem sich der zeitgenössische Tanz weiterhin einer Kategorisierung oder Definition verweigert, verleugnet er die Parameter seiner eigenen Macht und damit die Verantwortung dafür, welchen Schaden diese Macht anrichtet.
 

Dieses System hat große Ähnlichkeit mit der Art und Weise, wie weiße Vorherrschaft aufrechterhalten wird. Wenn weiße Menschen ihre Herkunft als einen bestimmenden Faktor ihrer Erfahrung leugnen, entziehen sie sich der Möglichkeit zu erkunden, ob sie sich struktureller Unterdrückung mitschuldig gemacht haben und inwiefern ihr Weißsein People of Color schaden kann. Dies ist ein Auszug aus Robin DiAngelos Text über weiße Zerbrechlichkeit, in der sie über ihre Erfahrungen als Weiße nachdenkt, die versucht, mit anderen Weißen über rassistische Erfahrungen zu sprechen:

If I cannot tell you what it means to be white, I cannot understand what it means not to be white. I will be unable to bear witness to, much less affirm, an alternate racial experience. I will lack the critical thinking and skills to navigate racial tensions in constructive ways… An inability to grapple with racial dynamics with any nuance or complexity is ubiquitous in younger white people who have been raised according to an ideology of colorblindness. [1]

 

Analog dazu, wie Farbenblindheit beim Antirassismus versagt, verhindert die Unfähigkeit der zeitgenössischen TänzerInnen, genau zu bestimmen, was es heißt, zeitgenössische TänzerInnen zu sein, die Möglichkeit, ihre eigene hegemoniale Stellung zu hinterleuchten. Sie fuchteln mit den Armen und sind bereits gelangweilt von der Bitte, ihre Identität zu definieren. Als Außenstehende, die inzwischen viele Jahre in Studios für zeitgenössischen Tanz verbracht hat, kann ich eine schier endlose Liste an Punkten vorlegen, was es angeblich heißt, zeitgenössische(r) TänzerIn zu sein:

  • Du siehst es als selbstverständlich an, dass an Hochschulen eine Ausbildung in Zeitgenössischem Tanz angeboten wird, und das Fehlen von Hochschulen, die Abschlüsse in anderen Tanzdisziplinen anbieten stört dich nicht sonderlich
  • Deine Bewegungspraxis ist von zwei oder mehr dieser Techniken beeinflusst: Release, Ballett, Flying Low, Cunningham, Horton, Limon, Contact Improvisation, Gaga, aber du magst es nicht, diese Techniken zu nennen, wenn du über deine Arbeit sprichst, weil es nicht so simpel ist.
  • Du liegst gerne auf dem schmutzigen Boden eines Tanzstudios und bist stolz darauf, lautlos darüber gleiten zu können.
  • Eine Geschichte, eine Erzählung, ein Musikstück oder eine Figur als Ausgangspunkt für eine Choreografie zu verwenden, ist Dir entweder unangenehm oder Du fühlst Dich radikal dabei.
  • Du hast auf der Bühne ein Werk gesehen, das dich anspricht und von dem du dir vorstellen kannst, darin zu performen. 
  • Du fühlst dich befugt, Bewegungsmotive / Stile aus anderen Tanzdisziplinen zu samplen, um deine Tanzpraxis zu entwickeln.
  • Du fühlst dich wohl, wenn du im Tanzstudio berührt wirst, und das Berühren / Anlehnen / Drücken anderer Körper im Studio fühlt sich wie ein natürlicher Teil der Begegnung mit anderen an.
  • Du wurdest noch nie gebeten, für die gesamte Community der Zeitgenössischen Tanzschaffenden zu sprechen.
  • Mit rhythmischen Praktiken im Studio zu experimentieren, fühlt sich entweder exotisch/aufregend oder simpel/ tribal an.
  • Wenn es um klassischen indischen Tanz geht, kannst du nicht mehr als zwei Beispiele nennen, und eines davon ist Akram Khan.

Na gut, Spaß beiseite, die obige Liste ist an und für sich nicht wirklich problematisch. Wie jede andere Tanzform hat auch der zeitgenössische Tanz seine Eigenheiten, ästhetischen Vorlieben und künstlerischen Ausrichtungen. Während meiner Zeit in einem Studio für zeitgenössischen Tanz kam mir des Öfteren der Begriff „gestische“ Bewegungen unter. Dabei handelt es sich um Bewegungen, die symbolisch, offensichtlich und letztlich zu leer sind, um selbst Tanz zu sein. Für mich war dies eine schmerzhafte Erkenntnis, denn die landläufige Übersetzung von hasta lautet „Handgeste“. Es ist nicht möglich, Bharatanatyam zu tanzen, ohne über den Einsatz von Händen zu entscheiden. Hände sind nicht bloß das äußere Ende des „eigentlichen“ Körpers, wie es meiner Meinung nach im zeitgenössischen Tanz der Fall ist. Das Gleiche gilt für die Augen: ohne gezielten Einsatz unseres Blicks ist uns ein Tanzen nicht möglich. Doch aus irgendeinem Grund wird diese Absichtlichkeit und der bewusste Einsatz als Ablenkung vom wirklichen Tanzen als geradezu unnötig übertrieben betrachtet. Die Vernachlässigung von Augen und Händen zugunsten der zentraleren, größeren und weitreichenderen Teile des Körpers ist eine ästhetische Vorliebe, die sich im zeitgenössischen Tanz häufig findet.

Problematisch daran ist, dass diese ästhetischen Vorlieben eigentlich eher ästhetische Hierarchien sind. Sie sind eingebettet in eine elitäre Perspektive des Tanzes, die eine Ordnung von „Echtheit“, „Authentizität“ oder „Innovation“ schafft. Über diese ästhetischen Hierarchien wird nie gesprochen, sie werden nie explizit erwähnt. Diejenigen, die von außerhalb des Paradigmas des zeitgenössischen Tanzes ein Studio betreten, stellen mit der Zeit fest, dass ihr Stampfen vielleicht nicht so gern gesehen wird oder dass ihre Emotionalität für andere zu viel des Guten ist. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass eine Person von außen, die ein Studio für zeitgenössischen Tanz betritt, nicht einmal in der Lage ist, diese spezifischen Vorlieben zu benennen. Stattdessen wird sie von dem Gefühl übermannt, irgendwie nicht so recht hineinzupassen und bestenfalls von Othering betroffen zu sein. Ich selbst habe sieben Jahre gebraucht, um die Glaubenssätze, die der zeitgenössische Tanz propagiert, zum Ausdruck bringen zu können. Kein(e) zeitgenössische(r) TänzerIn hat mir je dabei geholfen. Das hier ist der Höhepunkt meiner Arbeit und der Arbeit anderer marginalisierter Tänzer, die immer wieder versuchen, Gefühle des Unbehagens zum Ausdruck zu bringen.

Die Lektüre von Jo Freemans wegweisendem Artikel „The Tyranny of Structurelessness“ (Die Tyrannei der Strukturlosigkeit), den sie während und in Bezug auf die Frauenrechtsbewegung in den 70er Jahren schrieb, hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. „Strukturlosigkeit“ ist ein guter Ersatz zur Verschleierung dessen, was zeitgenössischer Tanz genau ist und woran er glaubt.

Thus structurelessness becomes a way of masking power, and within the women’s movement is usually most strongly advocated by those who are the most powerful (whether they are conscious of their power or not)…the rules of how decisions are made are known only to a few and awareness of power is limited to those who know the rules. Those who do not know the rules and are not chosen for initiation must remain in confusion, or suffer from paranoid delusions that something is happening of which they are not quite aware. [2]

Die unausgesprochenen Codes, ästhetischen Hierarchien und bevorzugten Arbeitspraktiken, die jedes Studio für zeitgenössischen Tanz kennzeichnen, dienen dazu, TänzerInnen außerhalb dieser Wissensbasis zu marginalisieren. Diese befinden sich praktisch in einem Dauerzustand des Versuchs, den Sachverhalt zu verstehen und auf dem Laufenden zu bleiben, anstatt zu tanzen. Dies stellt die Fähigkeit des zeitgenössischen Tanzes in Frage, wirklich mit anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten und seine eigenen Glaubenssätze zu überwinden. Es entsteht eine Kultur der Vorherrschaft, die sich stark an die Praktiken der weißen Vorherrschaft anlehnt. Das andauernde Privileg der Selbstbestimmung bedeutet, dass weiße Menschen dafür kämpfen, sich als Teil einer kollektiven Kultur des Weißseins zu verstehen. Auch zeitgenössische TänzerInnen betrachten sich als erfüllte, vielfältige, unendlich nuancierte Individuen, denen keine kollektive Identität gerecht werden könnte. Indem sie ihre eigene Beteiligung an der Kultur des zeitgenössischen Tanzes verleugnen, entziehen sich die zeitgenössischen TänzerInnen der Verantwortung für ihre Mitschuld an der Verbreitung der suprematistischen Kultur.

Können wir uns in einer Tanzkultur, die sich ihrer intellektuellen Praktiken und authentischen Verbindungen rühmt, eine Zukunft vorstellen, in der zeitgenössische TänzerInnen sich ihrer selbst bewusst werden, in der Ignoranz und Verschleierung nicht als Waffe eingesetzt werden, in der der zeitgenössische Tanz die Dominanz über unser Tanz-Ökosystem aufgibt und sich stattdessen in ihm verortet?

Über die Autorin

Shivaangee ist eine Choreografin und Forscherin, die sich auf eine langjährige Ausbildung in Bharatanatyam und experimentellere Aufführungspraktiken stützt. Ihr Ansatz fordert uns auf, in unserer Vielfältigkeit zu bleiben (körperlich, sozial, beziehungsmäßig, autobiografisch, systemisch) und stellt vorgefasste Annahmen darüber in Frage, was eine erkennbar "indische" Ästhetik ist. 

Die Form ihrer Arbeit ist klassisch in ihrer rhythmischen Präzision, kompositorisch unterstrichen durch Muster, die mathematisch, komplex und unvorhersehbar sind; volkstümlich in ihrer relationalen Spezifizität, die nicht-elitäre Bewegung und Raum für individuelle Nuancen innerhalb eines kollektiven Rahmens in den Vordergrund stellt; experimentell in ihrer Investition in eine andere Form der Virtuosität und in ihrer inhärenten Koexistenz mit Klang, Projektionskartierung und kollektiver Komposition.

Als ausgebildete Audiodeskriptionsexpertin bietet Shivaangee eine verkörperte AD-Praxis an, die durch die Notwendigkeit motiviert ist, nicht-visuelle Erfahrungen immer wieder neu in den Mittelpunkt zu stellen, nicht nur in der AD, sondern auch in der Art und Weise, wie wir uns mit Tanz beschäftigen und ihn begreifen. Sie ist begeistert von der Komplexität der Zugangsarbeit; es kann leicht sein, bestehende Hierarchien zu erneuern, selbst wenn wir beabsichtigen, die Teilnahme zu erweitern.

Weitere Informationen finden Sie unter www.shivaangee.com

Shivaangee Agrawal
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