Amumma’s dance

Mein Vater erinnert sich

 

Reaktionsvideo

 

Ich tanze mit meinem Vater

 

Meine schönste Tanzerinnerung

 

Onam 2007

Ich beschäftige mich nun schon seit Langem mit Erinnerungen und Tanz. Und ich werde mich wahrscheinlich auch noch viel länger mit diesem Thema befassen, weil es auf verschiedensten Ebenen so spannend bleibt. Wessen Tänze werden bewahrt? Welche Tänze sind es wert, bewahrt zu werden? Welche Tänzerinnen und Tänzer sind in unseren Archiven zu sehen? Wie kann der Tanz weiterleben?

It is also exciting to think about archives and dance together,  because in a way it goes against each other. The moment you share the dance, it also disappears. It lies within the nature of dance. After meeting Amanda Piña, I am also excited to think of my work with memories as an anti-capitalist act because modernism requires a form of amnesia. It requires that we forget and that we have memory gaps, when everything must be new.

Mit dem Projekt Amummas danceversuche ich, einer meiner schönsten Tanzerinnerungen nachzuspüren, um ein wenig mehr von dem zu verstehen, was tatsächlich passiert ist und um völlig überraschende Antworten darauf zu bekommen, warum in meiner Familie nicht mehr getanzt wurde.
Meine Tanzerinnerung führt mich in die Zeit des Festes Onam in Indien zurück. Ich erinnere mich noch, dass meine Großmutter plötzlich aufstand und tanzte. Ich erinnere mich an Nähe, Teilhabe und Freude - in ein und demselben Tanz. Das war auch für mich etwas ganz Besonderes, denn ich hatte dieses Fest zuvor noch nie erlebt. Ich machte meiner Mutter Vorwürfe, weil sie mir, völlig zurecht, in meiner Kindheit nicht erlaubt hatte, mir eine Auszeit von der Schule zu nehmen, um an diesem Fest teilzunehmen. Es wäre mir nur während der schwedischen Sommerferien möglich gewesen zu kommen, was für meine indische Familie und meine Cousins und Cusinen mit der Regenzeit und damit viel Arbeit in der Schule verbunden war. Ich zog meine eigenen Schlüsse daraus, nämlich dass ich deshalb nicht mehr mit Tanz in Berührung gekommen war, weil ich in der indischen Ferienzeit nie in Indien gewesen war, ohne zu merken, dass niemand in unserer Familie meine Großmutter je zuvor hatte tanzen sehen...

Einige Jahre später setzte ich mich mit meinem Vater zusammen, der den selben Moment mit mir, mit uns, erlebt hatte, um mehr über die Geschehnisse und die näheren Gründe zu erfahren. Mein Vater tat zunächst so, als wolle er mich bei meiner Spurensuche nicht unterstützen. Als ob es ihm unangenehm und lästig sei. Ich wiederum ärgerte mich darüber, dass mein Vater mir nicht die Erinnerungen liefern wollte, die ich suchte. Er lieferte mir nicht genau die Erinnerungen, die ich hören wollte, und ich wurde ungeduldig, wenn er viel zu allgemein über dieses und jenes Fest in Indien sprach und dabei sehr unpersönlich und allgemein beschrieb, wie Feste gefeiert werden können. Er tat dies, ohne sich auf den Tanz, auf uns oder diese spezielle Situation zu konzentrieren. Aber dann bremste mich mein Vater ein wenig aus und sagte: „Ich mach das schon“. Ich werde daran erinnert, dass ein Erinnern, ein Sich-Erinnern, Arbeit ist. Und dass es Zeit braucht, dass sich so etwas nicht erzwingen lässt. Aber in diesem Moment kann ich mir nicht verkneifen, ihn spüren zu lassen, wie frustriert ich bin. Ich werde erneut daran erinnert, wie unterschiedlich Erinnerungen hochkommen können, wie unterschiedlich man sich diesem Thema nähern muss. Manche Erinnerungen sind schwer zu fassen. Fast hat es den Anschein, als müsse man sie enträtseln, um an ihren Kern zu gelangen, oder als müsse man sie herauslocken, damit sie zum Vorschein kommen. Andere Erinnerungen wiederum scheinen einen zu verfolgen, als käme man nicht von ihnen los. Und manche tauchen plötzlich auf und entflammen den Körper, erwecken den gesamten Körper und die Gefühle zum Leben. Dies geschieht beispielsweise, wenn sich mein Vater das Dokumentationsvideo ansieht und die Musik ihn plötzlich dazu veranlasst, aufzuspringen und selbst ein paar Tanzschritte zu machen, nachdem er zuvor geäußert hat, wie müde er sei und dass ihm die Mühe, sich an den Tanz zu erinnern, keinen Spaß mache.

Das Gespräch mit meinem Vater war für mich sehr aufschlussreich und warf dennoch neue Fragen auf. Ich wusste nicht, dass meine Großmutter in der Tat ein sehr kulturell interessierter Mensch war. Es war mir neu, dass der Großvater meines Vaters in seinem Haus Aufführungen mit lokalen Tanzgruppen organisiert hatte. Wie kommt es, dass meine Großmutter ihren Tanz vor allen versteckt hat? Was war ausschlaggebend dafür, dass bei ihr im Alter von 90 Jahren plötzlich alle Dämme brachen und sie einen kollektiven Tanz zu Ehren von Onam tanzte? Wie hatte dieser Tanz in ihrem Körper so viele Jahrzehnte lang überleben können?

Wie ist es, in einer Familie zu leben, in der die Freude am Tanzen von der Sorge um die körperliche Aktivität der Kinder überschattet wird, weil man befürchtet, die Kinder könnten sich zu viel bewegen und es einem dann nicht gelänge, ihren zusätzlichen Hunger zu stillen? Wie manifestiert sich diese Angst? Wie lange wird diese Angst bestehen bleiben?

Danksagung Amummas dance:

Ich danke meinem Vater, Amumma, der Konstgruppen Ful, Kubkub, Gisle, Lea, Mira, Mrinalini Dsouza, Sandhya, Kavitha, Mala und der ganzen Familie Sri Sailam.

 

Credit: finding sisterhood

Eine Version von Amummas dance erschien zuerst als Farmors dans auf der Plattform Finding Sisterhood . finding sisterhood* ist eine dekolonisierende und queerfeministische Kartierung von zeitgenössischem Tanz und Performance. Diese Kartierung wurzelt in dem Bedürfnis, eine Bewegung zu mobilisieren und ästhetische Bewegungen zu benennen, die für zeitgenössischen Tanz und Performance anregend und elementar wichtig sind, während sie gleichzeitig in ihrer Geschichte und in ihrePiñan Archiven marginalisiert werden. Finding Sisterhood ist eine von vielen schwesterlichen Handlungen, bei denen Räume gestaltet werden, mit dem Ziel, kollektive Sprachen für Künstlerinnen und Künstler zu präsentieren und zu erschaffen, die, anstatt über Weißsein, Cis- und Heteronormen zu diskutieren, mit ihren eigenen Communities im Dialog sind.

Bonustext:

Ich tanze

 

Ich tanze

Ich tanze

Ich tanze

Ich tanze (Bewegung)

Ich tanze (Bewegung)

Ich tanze, weil die Menschen schon immer getanzt haben

Ich tanze, weil es die älteste Kunstform ist

Ich tanze, weil es die schönste Kommunikation ist

Ich tanze, um zu verstehen

Ich tanze, weil ich nicht verstehe

Ich tanze nicht, um verstanden zu werden

Ich tanze, weil niemand so tanzen kann wie ich

Ich tanze, weil es etwas ist, was ich tun muss

Ich tanze, um mich gut zu fühlen

Ich tanze, um glücklich zu sein

Ich tanze, um denken zu können

Ich tanze, um zu forschen

Ich tanze, weil es einfach so ist

Ich tanze, weil es gefährlich ist, mit den Hüften zu wackeln

Ich tanze, um die Räume zu wechseln

Ich tanze, um die Ansichten der Menschen über den Tanz zu ändern

Ich tanze, um die Meinung der Leute über mich zu ändern

Ich tanze, um die Sicht der Menschen auf sich selbst zu verändern

Ich tanze, um andere Perspektiven zu zeigen

Ich tanze, um die Normen zu erweitern

Ich tanze, um Vorurteile abzubauen

Ich tanze, weil ich es will

Ich tanze für meine Eltern

Ich tanze für dich

 

Ich tanze, weil ich eine professionelle Tänzerin bin.

Ich tanze, weil es das ist, was ich tun kann. Ich habe eine Tanzausbildung. Ich habe gelernt, meinen Körper zu kontrollieren. Mich um meinen Körper zu kümmern, ihn vorzubereiten. Ich kann mir verschiedene Tanzschritte und Bewegungskombinationen merken, verschiedene Choreografien. Ich habe gelernt, Teile meines Körpers auf verschiedenste Weise zu bewegen, zu verschiedenen Rhythmen, in verschiedenen Formationen. Den Körper auf verschiedene Weise zu beugen, das Bein zu heben und zu senken.

Ich tanze verschiedene Tänze aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt, aus unterschiedlichsten Kontinenten, den unterschiedlichsten sozialen Klassen, in unterschiedlichen Räumen, zu unterschiedlichen Zeiten.

Ich habe Flamenco, Stepptanz, Matt Mattox, Hip Hop, Lindy Hop, Ballett, Release-Technik, Graham-Technik, Cunningham-Technik, Kontaktimprovisation, Improvisation, Fly-Low-Technik, Instant Composition, Floor Bar, Pilates, Kathak, Bharata Natyam, Mohiniyattam, Kalaripayattu, Chau, Yoga, Tanz des Frosches, Tanz des Traurigen, Tanz des Wäschewaschens, Tanz des Wäscheaufhängens getanzt. Ich habe um Weihnachtsbäume getanzt, um Mittsommerstangen, im Raum, die ganze Woche lang, für den Freund in Lundagård, für meine Freundin im Hinterhof und in Zweisamkeit. Disco Dance, Party Dance, Voguing, Baba Karam, Shuffle, Tango, Samba, Moonwalk, Robot Dance, Electric Boogie, Electric Slide, Riverdance, Soul Train, auf dem Kopf und auf den Fersen. Aber nur ganz ab und an auf den Zehenspitzen.

 

Ich tanze für meine Mutter, die an einer Ballettschule angenommen wurde, aber nie hingegangen ist.

Ich tanze für meinen Vater, der Rhythmus im Blut hat, wie meine Großmutter immer zu sagen pflegte.

Ich tanze für diejenigen, die nicht tanzen dürfen.

Ich tanze für diejenigen, die nicht mehr tanzen können.

Ich tanze für meine Großmutter, die ich zum ersten Mal im Alter von 90 Jahren tanzen sah.

Ich tanze für meine Kinder. Ich habe mit ihnen auf meinem Körper getanzt. Und ich habe mit ihnen in meinem Körper getanzt.

Ich tanze jeden Tag mit ihnen, weil das die beste Art ist, jemandem nahe zu sein, jemandem ein Lächeln zu entlocken. Und jemanden einschlafen zu lassen.

 

Ich tanze, weil Generationen vor mir getanzt haben

Ich tanze, weil Lilavati getanzt hat

Ich tanze, weil ich ihr Vermächtnis in mir trage, das getanzt werden muss

Ich tanze, damit dieser Tanz getanzt wird

Ich tanze, damit ich mich an diesen Tanz erinnern kann

Ich tanze, damit auch du dich an diesen Tanz erinnerst

Ich tanze, damit wir diesen Tanz gemeinsam erleben können

Ich tanze und hoffe, dass du nicht vergessen wirst

Ich tanze, auch wenn mein Körper schmerzt

Ich tanze, damit mein Körper nicht schmerzt

Ich tanze, weil ich möchte, dass meine Kinder frei sind. Ich möchte, dass sie sich die Bewegung ihres Körpers zu eigen machen, und ich möchte, dass sie wissen, dass ihr eigener Körper ihnen gehört. Ich möchte, dass sie wissen, dass sie durch den Tanz eine Revolution auslösen können. Ich möchte, dass sie mit sich selbst für sich selbst tanzen.

Ich möchte, dass meine Kinder mit anderen tanzen, ich möchte, dass sie das Kribbeln im Bauch spüren, wenn sie mit jemandem tanzen, den sie mögen. Ich möchte, dass sie wissen, dass sie sich ihren Tanz und ihre Tanzpartner:innen aussuchen können.

Ich tanze, weil ich fürs Tanzen bezahlt werde

Ich ziehe es vor, mit anderen zu tanzen, im Geiste von Schwestern und in Liebe

Ich tanze gern in Clubs

Ich tanze im Dunklen

Ich tanze, wenn die Musik schön ist

Ich tanze auf der Bühne ohne Musik

Ich tanze bald

Ich tanze

Ich tanze und Welten werden zerstört

Ich tanze

Ich tanze

Ich tanze (Bewegung)

 

 

Zitiervorschlag
Nair, Rani. 2021. “Amummas Dance.” In: Moving Interventions 1:
Ambiguous Potentials // Performative Awakenings, December 2021. Edited by / Herausgegeben von: Sarah Bergh and Sandra Chatterjee, with Ariadne Jacoby (CHAKKARs -Moving Interventions), copyedited by: Veronika Wagner.
Published by / Veröffentlicht von CHAKKARs – Moving Interventions.

 

Über die Autorin

Rani Nair works with dance and choreography. Memory and archive is recurring thematic in her work. Her choreographies have been programmed at the Centre National de la Dance Paris, ImpulsTanz Vienna, Spielart Festival in Munich, Ignite! Festival of contemporary dance in Delhi, Singapore International Festival of Arts, Gothenburg Dance and Theatre Festival, Spielart festival and at the The Swedish Biennial for Performing Arts. Nair´s work is also represented at the Performing Arts museum, Dansmuseet in Stockholm and in the book Oxford Dictionary of Dance and Re-enactment.

Rani Nair

Lund

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