Stadtgeschichte zum Tanzen bringen – Simone Egger
Neue Arrangements
Um das Globale im Lokalen fassen zu können, schlägt der französische Soziologe Bruno Latour einen fundamentalen Perspektivwechsel vor – weil dieser Zugriff aus seiner Sicht so nicht funktioniert. Die etablierte Vorgehensweise, „lokalen Interaktionen“ nachzuspüren und dabei „globale Kontexte“ aufzumachen, führt zum einen analytisch ins Leere und trägt zum anderen auch nicht dazu bei, das Lokale in irgendeiner Weise zu fassen, wie der Soziologe meint. Dislokales Handeln gerät darüber hinaus gar nicht erst in den Blick. Um nun an Erkenntnisse zu gelangen, die auf komplexere Verfasstheiten des Sozialen abzielen, muss die Frage nach Latour stattdessen lauten: „Wie wird das Lokale hervorgebracht? Diesmal ist es nicht das Globale, das lokalisiert wird, sondern das Lokale, das neu arrangiert und umverteilt werden muss.“1 Durch die veränderte Setzung rückt in den Vordergrund, was Latour als frei zirkulierende und eben nicht von vornherein einem globalen Kontext und/oder einer lokalen Interaktion zugeordnete „Konnektoren“ bezeichnet. Mit dieser Verschiebung des Denkens wandelt sich auch das Verständnis der sozialen Welt fundamental, wie der Soziologe prognostiziert, „sie wird eine neue und plausiblere Gestalt annehmen“2. Ein solcher Perspektivwechsel, wie er in Anbetracht gelebter Realitäten durchgeführt werden muss, lässt sich auf die Auseinandersetzung mit einer generell von Vielheit geprägten Stadt und ihrer Gesellschaft übertragen. Dichte, Größe und Heterogenität sind die Qualitäten der modernen Großstadt, die der Soziologe Georg Simmel bereits im Jahr 1903 beschrieben hat.3 Auch im Gefüge der spätmodernen Stadt begegnen sich tagtäglich unzählige verschiedene Menschen, sind miteinander verbunden und bewegen sich analog auch in Räumen, zwischen denen es auf den ersten Blick keinerlei Berührungspunkte gibt. Angelehnt an Latour kann keine lokale – kulturell homogene – Stadtkultur angenommen werden, um daneben nach der globalen Dimension des Sozialen und ihrem Ausdruck in Geschichte und Gegenwart zu fragen. Stattdessen muss eine Stadtgesellschaft im Zentrum stehen, deren Lokalität dadurch zu Stande kommt, dass das Lokale sozial und kulturell von unterschiedlichen Standpunkten aus vielstimmig hervorgebracht wird, während sich Konnektoren zuallererst in Bezug auf die Stadt verorten lassen. Neu arrangiert wird auf diese Weise die Position von Bewohner*innen, deren Biografien temporär oder anhaltend an einer oder mehreren Stellen mit einer städtischen Biografie verbunden sind – unabhängig von gekerbten Lebensläufen, Ordnungssystemen oder Sichtbarkeiten.Münchner Leidenschaften
Sandra Chatterjee, Sarah Bergh und Ariadne Jakoby spüren im Rahmen von CHAKKARs denjenigen nach, die eine Leidenschaft für Tanz entwickelt haben, mit München lebensweltlich verbunden oder in der Stadt gestrandet sind, wie es ein Tänzer, der zuvor auf Kreuzfahrtschiffen auf den Weltmeeren unterwegs war, formuliert. Folgt man dem Soziologen Pierre Bourdieu, ist der Verlauf eines Lebens – unabhängig vom konkreten Kontext – zunächst einmal nicht linear, nicht kohärent und auch nicht stringent zu denken, vielmehr gilt es, nach sich verschiebenden Platzierungen und Platzwechseln im sozialen Raum zu fragen.4 Jenseits von Ballett und Schuhplattler, aber auch jenseits einer etablierten, weitestgehend weißen und sozial homogenen Gruppierung wie der Freien Szene tanzen Menschen in der bayerischen Landeshauptstadt, auch wenn sie vom Gros der Stadtgesellschaft nicht wahrgenommen werden. Ihre oftmals von Vielheit und Veränderung geprägten Lebenslinien sind Münchner Geschichten, die sich an verschiedenen Punkten mit der Stadt in Beziehung setzen lassen. Kann ein Mann in München einen Bauchtanzkurs besuchen? Alle Tänzer*innen agieren auf der Bühne des Lokalen und sind zugleich eingebunden in Konstellationen, die weit über die Grenzen der Stadt hinausreichen. Als Akteur*innen der Stadtgesellschaft werden insbesondere diejenigen oft nicht gesehen, die etablierten Zuschreibungen nicht entsprechen und nicht das machen, was ihnen sozial und kulturell zugestanden wird. Wäre ein Verein zur Erhaltung heimischer Folklore nicht naheliegend? Warum ist Swing die Leidenschaft eines Mannes, der in Südafrika geboren ist? Im Rahmen einer performativen Installation in den Räumen von Kulturbunt in Neuperlach, hat jede*r Teilnehmende die Möglichkeit erhalten, sich auf seine Weise vorzustellen und so in Szene zu setzen, wie sie/er* selbst sich sieht. Das Mapping verortet Menschen, die sich auf besondere Weise durch die Stadt bewegen, in Tanzschulen unterrichten und/oder im städtischen Kulturzentrum Gasteig auftreten, Menschen, die leidenschaftlich tanzen und aus dieser Motivation heraus künstlerisch arbeiten. Mit den Koordinaten der Tanzenden, die mit Sandra Chatterjee und Sarah Bergh über ihre Leidenschaft gesprochen haben, eröffnet sich ein Netzwerkraum, eine Münchner Tanzlandschaft, die in ihrer Vielheit der Stadtgesellschaft entspricht.Tanzgeschichte als Stadtgeschichte
„Menschen kommen in der Stadt auf je unterschiedliche Art und Weise an, richten sich unterschiedlich ein, bauen vertraute Strukturen auf, bewältigen alltägliche Probleme, entwickeln neue Visionen und gestalten damit auch die städtische Alltagspraxis.“5 Der Sozialwissenschaftler Erol Yildiz und der Historiker Wolfgang Meixner gehen in ihrem Band „Nach der Heimat. Neue Ideen für eine mehrheimische Gesellschaft“ unter anderem auf die Eigenschaften einer (welt-)offenen Stadt ein. Im großstädtischen Alltag ist Kosmopolitismus längst gelebte Realität. „Urbanes Leben markiert eine besondere Lebensweise, Urbanität ist Verhaltensstil, Lebensform und Gestaltungsprinzip; kurz: Urbanität charakterisiert eine neue Qualität des Sozialen.“6 CHAKKARs repräsentiert lokale Vielheit. Das vermeintlich andere ist wie das vermeintlich eigene kultureller Ausdruck der Stadt und ihrer Bewohner*innen, verschiedenartig überformt und überschrieben. Der Referenzpunkt ist dabei stets München. Was für eine Gesellschaft wird heute angenommen, wenn von Stadtgeschichtsschreibung die Rede ist? Welche Erinnerungen, welche Lebensgeschichten gehen in das kulturelle Gedächtnis ein? Über wen wird im Alltag gesprochen, wer oder was ist Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses? Was ist in der Vergangenheit festgehalten worden? Wer sammelt die Biografien einer Stadt? Die Kassette mit der Bauchtanzmusik, die im Punk-Laden gekauft wurde oder das exotische Tanzkursangebot, dass es in der Form nur in einem Bürgerhaus gab, sind zwei von vielen Momenten, die im Archiv der gelebten Münchner Tanzgeschichten aufbewahrt werden. CHAKKARs will Sichtbarkeit erzeugen und am Exempel einer spezifischen Stadtgesellschaft ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sich das Lokale in der Gegenwart aus unterschiedlichsten lokalen Positionen zusammensetzt. „Die Globalisierung der Lebensentwürfe bedeutet, dass sich die Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen der Welt nicht mehr weit draußen, sondern im Kern des eigenen Lebens, in lokalen Kontexten, in denen man sich tagtäglich bewegt, abspielen.“7 CHAKKARs nimmt gesellschaftliche Dynamiken auf und dokumentiert vielstimmig die Bewegungssprachen der Stadt. Flamenco wird ebenso getanzt wie Salsa oder Michel Jacksons Moonwalk. Die Plattform ist ein Archiv der Tanzenden, auch prekärer Erwerbsbiografien, Lebenswege und nicht zuletzt Träume.1 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main 2014, S. 331
2 Latour 2014: S. 332.
3 Vgl. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Berlin 2021 (1903).
4 Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main, S. 82.
5 Erol Yildiz; Wolfgang Meixner: nach der Heimat. Neue Ideen für eine mehrheimische Gesellschaft. Stuttgart 2021, S. 59.
6 Yildiz; Meixner 2021, S. 60.
7 Yildiz; Meixner 2021, S. 66.
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