Verschattet im wedernoch
In diesem Artikel bespreche ich exemplarisch zwei Etappen meines künstlerischen Tuns, bezeichnet als Session #1 tremor of dislocation und Session #2 Jenseits des Schweigens.
In meinen Arbeiten bewegt mich die Frage, wie durch Mittel der Performance, Figurationen von Identität/en entworfen werden können, die nicht eindeutig national umrissen sind, sondern die graduell brüchige bis fließende Qualitäten annehmen. Durch das Brennglas von Performance thematisiere ich Engführungen von Identitätsvorstellungen und Zugehörigkeitszuschreibungen, die sich aus den von mir gemachten Erfahrungen von erzwungener Amnesie (Vergessen) des Herkommens, der Un-Eindeutigkeit, der Zerrissenheit und der Vielstimmigkeit von Lebensweg und Persönlichkeit ergeben, um die Eindeutigkeit von Identitätszuschreibung und die damit einher gehenden geografisch-historischen Zuordnungen zu brechen. Das betrifft häufig emotional unangenehme und durchaus aufrüttelnde Facetten, die performativ Ausdruck finden.
Im Kern geht es in meinen Projekten um die Aufarbeitung eines migratorisch bedingten Konflikts, den ich aufgrund meiner Biografie zunächst internalisieren musste. Dieser Konflikt spannt sich zwischen Namibia und Deutschland auf. In meinen Performances und den damit verbundenen künstlerisch-performativen Prozessen arbeite ich mit Fragmenten, Übergängen, Lehrstellen, Kontrasten und Fragen, um mich auf diese Weise dem genannten internalisierten Konflikt anzunähern, der für mich mit einer ursächlich widersprüchlichen Identität zu tun hat: Wie wird Identität sozial gesellschaftlich zugeschrieben? Welche mitunter unlösbaren Konflikte ergeben sich daraus für das Individuum, aber auch für das Kollektiv? Das beinhaltet, im Lebensalltag normalisierte und nicht hinterfragte Linien der Macht aufzuspüren und aufzuzeigen – was kann Sprache und was nicht?
Geopolitische und biografische Aspekte verschränken sich dabei, in meinem konkreten Fall sind diese einerseits intergenerational in der eigenen Familiengeschichte und andererseits in weitreichenden geopolitischen Bezügen verankert:
-Auswanderung der deutschen Vorfahren ins ehemalige Deutsch-Südwest Afrika nach dem ersten Weltkrieg,
-unaufgearbeitete Nachwehen der zerrissenen Familiengeschichte durch die deutsch-deutsche Teilung nach dem zweiten Weltkrieg,
-Wechsel der in South-West Africa lebenden Familienmitglieder zur britischen und schließlich südafrikanischen Nationalität,
-ein von Rassismus und Apartheid geprägtes Leben in South-West-Afrika bis zur Unabhängigkeit Namibias in 1991,
-die anhaltenden schwelenden politischen Konflikte um die Kontinuitäten des deutsch-kolonialen Erbes im heutigen Namibia.
Geboren wurde ich in Windhoek, der Hauptstadt von South-West-Africa, dem heutigen Nambia. Bei der Geburt wurde ich als Südafrikanerin und als Weiß registriert.
Meine Kindheit und frühe Jugend bis zum 11. Lebensjahr habe ich in South-West-Africa in einer vergleichsweise privilegierten middle class Familie verbracht. Im Schulalltag kamen zu der Zeit keine schwarzen Kinder vor. Das änderte sich erst 1978, als meine Familie South-West-Africa verließ. Aufgrund der zunehmenden Unsicherheit durch den herrschenden Unabhängigkeitskrieg der SWAPO gegenüber der südafrikanischen Apartheitsregierung wanderten meine Eltern zusammen mit mir und meiner Schwester nach West-Deutschland aus. Für meinen südafrikanischen Vater mit deutschen Wurzeln, der die Apartheitsregierung politisch ablehnte, war es ein Auswandern in das für ihn fremde Herkunftsland seiner Eltern, für meine Mutter war es eine Rückkehr nach Deutschland - sie stammt aus dem Saarland. Für mich, in South-West-Africa geboren und aufgewachsen, bedeutete der Umzug ein Auswandern in ein fremdes Land, in dem ich eine Erfahrung, die ich als „whitewashing“, bzw. als „Einweißen“ bezeichne, erfahren habe. Mit “whitewashing” ist eine soziale Erfahrung der Anpassung in eine dominant als Deutsch, Mittel-Europäisch verwurzelte und sich im Kern als unhinterfragt Weiß definierende Gesellschaft oder Gemeinschaft gemeint, die ich als Jugendliche in West-Deutschland in den ausgehenden 1970er bis 1990er Jahren erfahren habe.[1] Diese subtil gewaltvolle Erfahrung hat mein Leben geprägt.[2] ------------------------------------------------------------ [1] Vgl. Röggler, K. Critical Whiteness Studies und ihre politischen Handlungsmöglichkeiten für Weiße Antirassistinnen: Eine Einführung, Wien: mandelbaum kritik & utopie, 2012, S. 60-71. [2] Vgl. Lilleike, M. „Skinstory – Migratory Experiences and the Transformational Power of Performative Means.“ In: African Somaesthetics: Cultures, Feminisms, Politics. Catherine F. Botha (Ed.), Leiden, Boston: Brill, 2020, S. 200-204. In dem genannten Aufsatz beschreibe ich den Prozess des sozialen „Einweißens“, eine mich prägende Lebenserfahrung, die ich 2012 in einer Performance mit dem Titel Skinstory/Crossfade – Sound of Migration, verarbeitet habe.
For me, migration meant being torn out of a geographical location without being able to have a say as an eleven-year-old, and finally ending up in a different landscape and living environment that was completely foreign to me. For me, arriving in Germany meant escaping a civil war zone on the one hand, and yet for many years it brought with it the uncertainty of finding and not finding my way. Previous frames of reference no longer applied, even though I had German ancestors and spoke a German that differed only slightly from continental German. For me, arriving in Germany meant going through many years of irritation. I was white, but not white enough to be considered West German. It was an experiential journey that I aptly describe, with reference to theorist of migration Christou, as “unresolved dislocation”.[2]
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[1] Cp. Lilleike, M. „Skinstory – Migratory Experiences and the Transformational Power of Performative Means.“
In: African Somaesthetics: Cultures, Feminisms, Politics. Catherine F. Botha (Ed.), Leiden, Boston: Brill, 2020, P. 200-204. In this essay, I describe the process of social “whitening/whitewashing”, a formative life experience for me that I processed in 2012 in a performance entitled Skinstory/Crossfade – Sound of Migration.
[2] Cp. Christou, A. “(Re)collecting memories, (Re)constructing identities and (Re)creating national landscapes:
spatial belongingness, cultural (dis)location and the search for home in narratives of diasporic
journeys,” International Journal of the Humanities 1 (2003): S. 1455-1464.
Der Verlust einer bekannten Lebenswelt mit all ihren sinnlichen Aspekten und Bezügen prallt auf völlig neue sinnliche Bezüge, die, wenn man aus dem südlichen Afrika kommt, in keinster Weise mit der sinnlichen Erfahrungswelt und der Landschaft Deutschlands kompatibel sind. Findet man dazu kein interessiertes offenes Gegenüber, so wie ich das als Jugendliche erlebt habe, sondern trifft man stattdessen auf Menschen, die alles was mit Afrika zu tun hat entweder bemitleiden, als befremdlich abwerten oder als exotisch verklärend überzeichnen, so beginnt man das, was man erinnert, das was einem teuer ist, zu verschweigen. Trauer legt sich über das Zurückgelassene. Hinzu kommt ein tiefsitzendes Gefühl von Scham und Schrecken, nicht in Deutschland geboren zu sein, sondern im ‘Ausland’. Der Ort, wo ich herkomme – das, was zu einem Gefühl des Selbst inwendig gehört – bleibt durch die Infragestellung in einer konstanten inneren Erschütterung hängen.
Session #1 Tremor of dislocation
Der Klang dieses Tremor of dislocation hat sich in meiner stimmperformativen Arbeit einen Weg gebahnt . Im Saarland lernte ich nach meiner zweiten Rückkehr nach Deutschland, diesmal nach einem mehrjährigen Studium auf Hawaii, die Band fliegen und surfen kennen. mit Bernd Wegener aktiv als Klangperformer und Schlagzeuger, Frank Post an der Gitarre und Guy Winter am Bass. Sie luden mich ein, in Richtung musikalisch-klangliche Expeditionen aufzubrechen. Jede Session basierte auf Improvisationen und dem Willen, Impulsen klangliche Form zu geben. Klang- und Stimmimpulse begegneten sich im Quartett, um dabei im Austausch klangliche Landschaften akustisch zu erschaffen. Das gemeinsame Vergnügen bestand darin, diese Landschaftszüge im improvisatorischen Prozess in vielschichtigen Variationen ein- und auszufalten. Die sich dabei ergebenden Klangfarben und Klangmuster wurden getragen von mäandernden bis treibenden Grooves. Manchmal zersplitterten sie explosiv-kaleidoskopartig, um sich jäh neu zu figurieren. In diesen Sessions konnte ich stimmlich den vielschichtigen Facetten meines biografischen Weges und Werdens mit all seinen Irritationen, wütenden Untönen, der Schmach, der Angst und dem Schrecken, sowie der zugrundeliegenden Lust am Experiment und dem ungestüm Unbekannten klanglich-performative Form geben.
Die Experimente des Dada, Minimal-Music, Extrem Vocalism, Instant Music, Konkrete Poesie sowie die für mich stilbildenden Erfahrungen mit japanischem Noh-Theater, chinesischer Oper (jingju) und hawaiianischem traditionellen Hula, die ich durch mein bühnenkünstlerisches Studium und Forschen auf Hawaii und in Japan gemacht hatte, bilden den Hintergrund meiner stimmperformativen Aktionen, die meiner dissonanten MIgrationserfahrung einen künstlerischen Ausdruck geben, unabhängig von europäischer Musik- und Gesangstradition.
Durch das Improvisieren mit fliegen und surfen fand ich Zugang zu meiner verdrängten kinästhetisch-somatischen Grundverfaßtheit, die für mich über viele Jahre mit Sprachlosigkeit einherging. Musikalisch-performativ konnte ich meine zutiefst widersprüchlich empfundene Identität “sprechen lassen,” als Mensch weißer Hautfarbe im südlichen Afrika, d.h. in Namibia geboren und aufgewachsen zu sein. Die Folgen des Bürgerkriegs der schwarzen Bevölkerung sowohl gegen die bis 1990 herrschende südafrikanische Besatzung als auch gegen die Kontinuitäten deutscher kolonialer Einflüsse im Land und meine Erfahrung der Übersiedlung als Jugendliche von Namibia nach Deutschland haben meine innerlich bebende Selbstwahrnehmung geprägt. Ich empfinde mich in meinem Weißsein durch meine gefühlte Identifikation mit dem Land Namibia, seinen Menschen und seiner Geschichte, die zum Glück schließlich zur Unabhängigkeit geführt hat, im Positiven als „verschattet“. Mit verschattet meine ich, dass in meinem Selbst eine untergründige, schwer bestimmbare namibische Resonanz schwingt, die eine innere kritische Distanz gegenüber einer zu einseitig gefühlten und verstandenen „weißen” deutschen Identifikation schafft. Über viele Jahre konnte ich diese Vielschichtigkeit meiner Selbstwahrnehmung in Deutschland nicht leben. Allein der entschieden freiheitlich musikalische Geist, der mich mit dem Team von fliegen und surfen verbindet, eröffnete mir den Raum, die von mir wahrgenommen kulturellen Einschränkungen des sich nicht Verständigen-Könnens und des Nicht-Verstanden-Werdens zum Ausdruck zu bringen. Das Improvisieren ließ die Möglichkeit des klanglich-performativen Anstoßes und des Exzess zu, empfundene Begrenzungen zu überschreiten.
Die Improvisationen mit fliegen und surfen fanden ihre Liebhaber. Es gab auch solche im Publikum, die diese Form des Performens nicht ertragen konnten. Die klanglichen Facetten des tremor of dislocation, die in den Sessions mit fliegen und surfen für mich als Stimmperformerin Ausdruck fanden, sind aufrüttelnd, erschreckend, verstörend aber zugleich zutiefst leidenschaftlich und dazu mitunter ziemlich eigenwillig und humoristisch-amüsant. Es ist eine Klangreise, auf die man sich als Zuhörende einlässt, bekanntes Terrain verlassend. Das Un-Erhörte ist eben mitunter nicht unbedingt schön - oder vielleicht doch?
Session #2 Jenseits des Schweigens
Als Performerin arbeite ich mit der inneren Landschaft von Erinnerungen, Gefühlen und Bereichen des Sensorischen, die sich im nichtsprachlichen Bereich der kinästhetisch-somatischen Welt des Selbst verbergen, auftauchen und wieder abtauchen.
Es handelt sich dabei um traumartige Gebilde, Fragmente von Eindrücken und Wahrnehmungen des Spürens. Diese können alle Formen sensorischer Wahrnehmung annehmen. Hinzu kommen Eindrücke und Informationen, die ich durch Recherchen sammle. Ich horche, was für Reaktionen kommen, wie die eigene innere intuitive Stimme, die Wahrnehmung und Vorstellungswelt auf die äußeren Informationen reagiert, sie aufnimmt, verarbeitet. Manchmal überraschend und nicht vorhersehbar. In dieser Weise habe ich das Solo Für Saraphia – Jenseits des Schweigens entwickelt, das in der performativen Installation flowers, bells and water – decolonizing turns, ein Projekt von Chakkars - moving interventions, im schwere reiter in München, im Juni 2022 zur Uraufführung kam.
Mit dem Solo hatte ich mir vorgenommen, der Beziehung zu Saraphia nachzugehen. Sie arbeitete vor und einige Zeit nach meiner Geburt im Haushalt meiner Eltern. Wir lebten in dieser Zeit in Windhoek, South-West-Africa, dem heutigen Nambia. Immer wieder mal erzählte meine Mutter von Saraphia. Es gab ein Foto, das sie und mich als Kleinkind zeigt. Dieses Foto, eine Handglocke aus Bronze, gelbe Tuchbänder und ein Armband aus hellen Kukuinüssen, das meine Zeit auf Hawaii repräsentierte, waren die ausgewählten Requisiten für die Probenarbeit und letztendlich auch die Performance.
Ich hatte eine sehr schwierige Aufgabe vor mir. Es gab nur sehr wenige Informationen aus dieser frühen Zeit meines Lebens. Saraphia war ich als Kleinkind begegnet. Was aus ihr geworden ist, ist mir nicht bekannt. Wichtig für mich war, dass sie den Ovaherero angehörte.
In der Probenarbeit trat ich, so wie ich es nenne, in den Raum der Erinnerung ein. Dieser tut sich auf, wenn ich im Moment mit der aktuellen Präsenz des eigenen Selbst in Begegnung gehe. In diesem Raum der Präsenz gibt es keine Trennung von gestern und heute. Es sind Schichtungen, die sich auftun. Manchmal durchlässiger, manchmal weniger. Das Zulassen dessen, was sich zeigt, ohne Wertung, ist entscheidend. Im freien Fluss des Bewußtseins ließ ich Erinnerungen aufsteigen, die ich im Moment zu versprachlichen begann. Ich fand die passende Körper- und Handhaltung dazu. Es waren die sich zeigenden inneren Bilder und Sinneswahrnehmungen, die sich als Worte, als Erzählung, als konkrete Poesie zu formulieren begannen. Ich zeichnete die erste Session auf, um sie mir wieder ansehen zu können, hauptsächlich als zusätzliche Stütze.
Meine frühe Lebenswelt tauchte auf, die ich zu beschreiben begann, mal aus Vogelperspektive, mal aus der eigenen Innenansicht. Im Prozess des Wiederdurchlebens brachen unendlich viele Tränen los, die sich als somatische Schicht des Schmerzes durch die lange Zeit der Trennung abgelagert hatten. Es war überwältigend. Doch auch das kannte ich durch meine stimmperformative Erfahrung. Den emotionalen Ansturm durchlassend und diesem gleichzeitig standhaltend, formierte sich im Prozess des Performens das Bild und die Erzählung über das Haus, in dem wir in Windhoek gelebt hatten, das Straßennetz, das den Hügel überspannte, die hügelige Landschaft. Bemerkenswert war für mich zu erkennen, dass die Straßen des Stadtteils Namen deutscher Komponisten trugen … Schubert, Mozart, Beethoven. Aber auch Namen von Vögeln, die für Deutschland typisch sind, wie z.B. Eulenstrasse.
In einem zweiten Schritt nahm ich mir das Foto selbst vor, das Saraphia und mich abbildete. Ich nahm die Haltung von Saraphia ein, die mich als Kleinkind mit ihrem linken Arm hielt und mit der anderen Hand eine kleine Puppe so zwischen uns platzierte, dass ich den ausgestreckten Arm des Püppchens zielsicher halten konnte. Mein Blick war - wie das so bei Kleinkindern der Fall ist - mit vollster Aufmerksamkeit auf das Püppchen gerichtet, während Saraphia aufrecht nach vorn ausgerichtet freundlich in die Kamera blickt. Ich beschreibe die Kleidung, die sie auf dem Foto trägt. Dazu die besondere Kopfbedeckung mit der markanten Ausstülpung. Eine Nadel schmückt die Mitte der nach vorn und horizontal seitlich verlaufenden Ausstülpung. Diese spezielle Kopfbedeckung wird von Ovahererofrauen stolz als Teil ihrer Tracht getragen. Im Probenprozess begab ich mich auf diesem Weg in die Begegnung mit Saraphia, lernte sie im Prozess des somatisch-kinästhetischen Einstimmens in diese fotografische Momentaufnahme näher kennen. Ich trat ein in die Vertrautheit dieser tiefliegenden somatischen Erfahrung, als Kleinkind auf ihrem Arm gesessen zu haben, mit dieser großen Nähe. Es war unendlich berührend nachzuvollziehen, wie sie mich so sicher auf ihrem Arm hielt und mir das Püppchen entgegen hielt. Im Prozess der Probenarbeit wurde dieses Zusammenspiel der Gesten zum ganz persönlichen Pakt, den wir beide in dem Moment der Aufnahme realisierten. Das Püppchen, von uns beiden gehalten, stellt für mich ein liebevolles Symbol der Hoffnung, der Begegnung, der Menschlichkeit und Freundschaft dar, einer Freundschaft, die Rassismus und herrschende Klassen-Asymmetrien für einen Moment (?) zu überwinden vermag.
Das Foto markiert natürlich eine andere Realität. Wenige Monate bevor die Fotografie entstand, wurden die Bewohner der Alten Werft durch den bewaffneten Arm der Behörden der herrschenden Apartheitsregierung Südafrikas vertrieben. Die Alte Werft, auch Old Location genannt, war eine sehr alte Siedlung der schwarzen Bevölkerung . Sie lag von unserem Haus aus gesehen auf dem nächsten Hügel. Die Siedlung wurde durch die Behörden mit Bulldozern zerstört. Die Einwohner wurden nach Katutura, einen außerhalb Windhoeks gebauten Bezirk zwangsumgesiedelt. Katutura heißt in der Sprache der Ovaherero: Der Ort, wo wir nicht leben wollen.
In Gesprächen mit meiner Mutter, die die Probenarbeit ergänzten, erfuhr ich, dass Saraphia in der Alten Werft gelebt hatte und von da an jeden Morgen mehrere Kilometer aus Katutura laufen musste, um bei uns weiter zu arbeiten. Das freigewordene Gelände wurde als gutes Bauland an weiße Siedlerfamilien verkauft, die dort ihre großräumigen Häuser und Gärten anlegten.
Credits: Caroline Armand
In der Performance ging ich noch einen Schritt weiter in der Begegnung. Da Saraphia Vorfahren gehabt haben muss, die in dem Genozid der deutschen Schutztruppe an den Ovaherero und Nama verstrickt gewesen waren, entschied ich mich dazu, mich im Geiste mit der Omhekewüste zu konfrontieren. Nach dem die Deutschen den Aufstand der Ovaherero und Nama in der Schlacht vom Waterberg am 11. August 1904 niedergeschlagen hatten, wurden die Frauen und noch lebenden Männer, Kinder und ältere Menschen in die Omahekewüste getrieben, um dort jämmerlich zu verdursten und zu verhungern. Ziel war es, die Ovaherero, endgültig zu eliminieren. Ich entschied mich, dem Leid, das seither in der Wüste als Erinnerung eingeschrieben ist, in Auszügen eine Stimme zu geben. Ein unfassbares Vorhaben. Ich versetzte mich in dieses leidvolle Erinnerungsfeld der Wüste, das mich mit unermesslichem Schütteln wieder und wieder erfasste. Aus diesem Schütteln heraus gebar ich den stimmlichen Ausdruck des puren Schreckens mit einem länger anhaltend tief-schrillen Ton und Vibrato. Der Ton hallt und hört im Grunde nicht auf, bis der Atem aussetzt.
Um ein Zeichen für die Toten zu setzen, begann ich im Zuge der Performance eine handgehaltene Bronzeglocke unentwegt, mindestens über mehrere Minuten hinweg zu läuten. Dies sollte ein Zeichen sein, im Gedenken an die ermordeten Ovaherero und Nama.
Aufgeführt am 25.6.2022 im schwere reiter in München im Rahmen von Flowers, Bells and Water – Decolonizing Turns, ein Projekt konzeptualisiert und organisiert durch CHAKKARs – moving interventions, München.
Über die Autorin
Monika Lilleike is active as a performance artist, stage director, independent academic researcher and lecturer in the field of Asian and Pacific Performance and European Experimental Performance Art and Theory, residing currently in Berlin. She gained her MFA in Asian Performance at the University of Hawaii at Mānoa/Hawaii (2000). In 2003 Lilleike was invited as a Bunkcho artist fellow to Japan to study with Noh Theater specialist Rick Emmert and Noh Master Sadamu Omura, a member of the Noh Theater Kita Ryu. She took classes on Nihon buyo and Gagaku music learning hichiriki (a double reed instrument) in Tokyo.
During her studies on the island of O’ahu/Hawaii (1997-2001), Lilleike was accepted as a student to the traditionally run Hālau Hula Mele (hula school and ensemble) lead by Hula Master Kumu Hula John Keola Lake. She has been a practicing associate member of Hālau Hula Mele since. Kumu Hula John Keola Lake entitled Lilleike to teach as kumu hula (hula master) perpetuating his hula school in Europe. Lilleike is the head of the traditionally run hula school Hālau Hula Makahikina in Berlin, since 2007. Lilleike perceives her current approach of teaching traditional hula in Germany as a continuous contribution into decolonizing minds, bodies and perspectives towards a comprehensive practice of hula. She gained her PhD in Theatre studies in 2014 at the Free University of Berlin. She published her extensive field research on Hawaiian Hula ‘Ōlapa and her investigation into the method of practice as research at the transcript publishing company in Germany.
Her performance and academic research interests tie into: conditions of oral tradition, practices and aesthetics concerning cultural performance practices from the Pacific and Asia, procedures of cross-cultural translation, the senses and embodiment, stylization and embodied knowledge, the development of practice as research understood as methodological tool of cultural studies and performance analysis, migration, diasporic journeys, politics of identity, critical whiteness studies, and strategies of decolonization. Lilleike discusses her life path and work, developing strategies on transgressing white supremacy in her paper Skinstory – Migratory Experiences and the Transformational Power of Performative Means published as part of the book African Somaesthetics: Cultures, Feminisms, in 2020 at Brills, Netherlands.
Lilleike concentrates in her experimental performance work on the multi-facetted interplay between voice and stylized body movement. The allusive power of gestures, abstract movement figurations and vocal expression in motion make her work seem like concrete poetry. Her performance artistic work is informed by her formal training in classical Chinese, Japanese and Hawaiian performing arts and ties into concepts related to European avant-garde such as Dadaism, Body Art, Minimalism. Lilleike has been involved as a soloist and team player in various music and performance art projects and collaborations throughout the years. As part of her continued investigation into transgressing eurocentrism, Lilleike has been invited lately to participate conceptually and artistically in two installation performance projects run by Chakkars – Moving interventions in Munich. One of them, the production flowes, bells and water – decolonizing turns at the theatre space Schwere Reiter in Munich, included her solo Für Sarafia – Jenseits des Schweigens (2022). At the Asia Pacific Dance Festival and Conference (2022), held at the University of Hawaii and East-West Center, O’ahu/Hawaii, Lilleike presented a paper on decolonial strategies based on measures of “unlearning”. Her second entry was accepted at that same conference, showing the video performance piece Hala – Weaving Sound and Gesture. An Invitation to heal; produced by lilleikewegener, a performance duo run by Lilleike and sound artist and percussionist Bernd Wegener.
url: www.monika-lilleike.de, www.hula-makahikina.de