Meine Reise zur Cumbia Colombiana in Monterrey.

Yo vengo con mi sombrero, con mi pañuelo amarrado…

(Con el pie pelado, Andres Landero)

Dieser Text entstand nach meinen Erinnerungen und den Erinnerungen von KünstlerInnen aus Monterrey, die netterweise an meine Recherche[1] über die Cumbia Colombiana Regia im Juni 2022 mitgewirkt haben. In meinem Text zitiere und verwende ich Ideen von Silvia Rivera Cusicanqui, Soziologin, Historikerin und Aktivistin aus La Paz, Bolivien, die mir dabei geholfen haben, Verbindungen und vergleichende Gegenüberstellungen in den Identifikationsprozessen zu verstehen, die ich in der Cumbia Colombiana Regia verorte.


Seit 2016 arbeite ich als Choreografin in Hamburg, wo ich derzeit lebe. In meinen choreografischen Arbeiten beschäftige ich mich mit fiktiven Körpern in utopischen und dystopischen Räumen, die mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Realitäten verwoben sind. In diesem Jahr habe ich damit begonnen, einige Tänze zu recherchieren, die in Grenzgebieten zu finden sind, im Speziellen in Mexiko,. Im Juni 2022 reiste ich für drei Wochen nach Monterrey in Mexiko, um diese choreografische Recherche durchzuführen. Da ich in Chiapas im Süden Mexikos, im Grenzgebiet zu Guatemala, geboren wurde, hat es mich interessiert, andere Spannungsräume kennenzulernen, die mit dem Ökologischen, dem Soziopolitischen und der Identität zu tun haben. Dieser Grenzraum, der in Wüstenlandschaften eingebettet ist und eine besondere Ästhetik aufweist, bildet das Szenario, in dem sich seit den 70er Jahren eine Subkultur herausgebildet hat, die sich scheinbar im Schatten einer Stadt bewegt, in der Modernität und der amerikanische Einfluss vertikal wie ihre Gebäude wachsen. Aber sind die Cumbieros wieder in der Stadt, kommen sie einem vor wie horizontal verwobene Wurzeln, die einen Teil des städtischen Lebens stützen.

Die Musik und der Tanz der kolumbianischen Cumbia haben im Norden Mexikos veränderbare Identifikationsprozesse ermöglicht[2] die einem inneren Motor des Widerstands gegen das neoliberale System gleichen, das sich schnell in das Leben der Gesellschaft und in die Hügel der Stadt eingräbt. Diesen Prozess der Identifikation der Einwohner Monterreys mit denen Kolumbiens durch die Cumbia betrachte ich als einen Pakt zwischen Mestizos[3] unter den Kolonisierten, der sich gegen die Präsenz der Weißen, gegen die Präsenz und den Einfluss der USA in der Stadt ausbreitet und wehrt. Die afrikanische, indigene und spanische Präsenz, aus der die Cumbia stammt, spiegelt sich in diesem Teil Mexikos wider, offenbart sich dort und wird dort noch verstärkt. Die TänzerInnen und SängerInnen kolumbianischer Musik verfügen über Subjektivitäten, die ich, um es in den Worten von Rivera Cusicanqui zu sagen, als befleckt, gemischt[4] unrein und promisk[5]betrachte – nebeneinandergestellte kulturelle Elemente – und werden zu emanzipierenden Körpern von Mestizos.

Wieder mit der Cumbia in Berührung zu kommen, aber mit einer anderen Cumbia als die, die ich als Kind und als junges Mädchen bei Familienfeiern getanzt habe, war die Absicht meiner Reise. Dort auf den Straßen, in den Vierteln wollte ich mich selbst beim Tanzen in der kolumbianischen Cumbia Regia wiederfinden, die ich durch den Film I'm no longer here!kannte und der mein einziger Bezugspunkt war, da ich noch nie zuvor in Monterrey gewesen war. Ich wollte unbedingt einen Teil von mir neu zu erfinden, der immer schon eine Identifikationskluft gespürt hatte, nicht nur geografisch, sondern auch kulturell durch die Städte im Zentrum und im Norden des Landes.
Ich kam am Mittwoch, den 29. Juni 2022, auf dem Flughafen von Monterrey an. Schon im Flugzeug wurde ich vor der Dürre und dem Wassermangel gewarnt, unter dem die Stadt seit Monaten leidet und der sich noch verschärft und dazu geführt hat, dass Tausende von Menschen ohne Wasser sind. Vom Flugzeug aus zeigte man mir die verdorrten Hügel und den ausgetrockneten Damm. Eine staubtrockene Region. Bereits kurz darauf erfuhr ich die Namen der Unternehmen, die in Monterrey Wasser stehlen: die Cuahtemoc-Brauerei, Coca-Cola, Ternium und andere, und ich spürte Wut und schämte mich, dass ich sie bereits bei der Ankunft spürte.
Meine Motivation war es, Cumbia Colombiana Regia-Kurse zu besuchen, meinen Körper auf die Probe zu stellen, die Schritte zu analysieren und den Tanz zu verstehen. Außerdem wollte ich die MusikerInnen und TänzerInnen treffen, mit ihnen reden, von ihnen lernen und an den Tänzen teilnehmen. Ich habe mein ganzes Leben lang Cumbia getanzt, bei Familienfeiern und in einigen Diskotheken in Mexiko. Aber diese Musik und dieser Tanzstil der Cumbia Colombia aus Monterrey wurden für mich immer attraktiver, da es sich nicht um einen folkloristischen Tanz handelte, den die Regierung katalogisiert und uns in den Schulen beibringt. Gleichzeitig war es auch nicht einfach eine tropische Cumbia: Die Trommeln, die Schnarrtrommel, die Guacharaca und das Akkordeon, klangen nicht nur anders, sondern sahen auch ganz anders aus. Es war eine Cumbia, bei der meine Füße komplexe Bewegungen ausführen, bei der die Geschwindigkeit und die Intensität der Schritte im Kontrast zur schwebenden und ruhigen Position des Oberkörpers stehen. Der Körper fühlte sich geteilt an, gebrochen, aber nicht gegensätzlich, ganz im Gegenteil - der Kontrast lag im Dialog. Sprünge, Drehungen, Biegungen. Bei diesem Tanz entdeckte ich die Arbeit mit entgegengesetzten Richtungen und Geschwindigkeiten. Mein Körper begann, sich nicht nur dem Rhythmus des Akkordeons, sondern auch dem des Synthesizers und des Basses anzupassen. Etwas Neues und Intensives, das ich bei einer Hitze von fast 40 Grad Celsius praktizierte, ließ mich innerlich kochen. Meine Schritte wurden immer sicherer und stärker. Alex Valdés, mein Tanzlehrer, erklärte mir Dynamiken wie die Relays und die Duelle. Ein(e) TänzerIn tanzt in der Mitte des Raumes, und wenn er oder sie fertig ist, erfolgt die Ablösung, was eine Art von inhärentem Einverständnis gleichkommt. Darüber hinaus hat dieser Tanz die Eigenschaft, dass er durch die „Duelle“ bestimmte Probleme oder Konflikte zwischen Banden löst, was sich im Laufe der Zeit als formaler Aspekt des Tanzes als Unterhaltung erhalten hat. Dadurch wurde mir die Bedeutung der Gemeinschaft klar, der Anwesenheit anderer, in einem Tanz, der nicht paarweise getanzt wird. Es ist auch ein Tanz, der aus den Stadtvierteln kommt.

Die Sängerin Luna Sabanera berichtete mir von einer Erinnerung an ihre Kindheit:

L: Als ich klein war, musste meine Mutter, Adela Barrera, arbeiten, mein Vater verließ uns, als ich noch sehr klein war. Ich war drei Jahre alt. Meine Mutter musste arbeiten und meine Tanten und Onkel mussten sich um mich kümmern. Meine Tanten und Onkel lebten hier in Independencia,  meine Mutter nahm mich an den Wochenenden mit, und ich erinnere mich, dass die Jungs Fußball spielten und   danach tanzten, egal ob sie verloren oder gewonnen hatten. Die erste Musik, die ich hörte, war von Andres Landero. Ich sah ihnen beim Tanzen zu und mit der Zeit gefiel mir die Musik. Auch wenn meine Tante damals die Musik von Barny spielte, mochte ich diese Musik, denn ich wusste, wann die Spieler kommen würden, und ich ging mit meinen Chips und meinem Saft raus und wartete auf sie. Ich ging mit meiner kleinen Dose raus, um ein Trinkgeld zu bekommen, damit sie mir Geld gaben. Da fing ich an, der Musik zu lauschen, ich sah sie tanzen. Ich war etwa 5 oder 6 Jahre alt, und ich sah ihnen zu und begann zu tanzen.

Tage später reiste ich nach Independencia, dem „Barrio Bravo“ par excellence von Monterrey. Das Viertel erstreckt sich entlang des Hügels. Im berühmten Independencia wartete ich auf Luke, eine Frau, die mir ihr Haus für ein Interview mit ihren beiden Freundinnen zur Verfügung stellte. Die beiden Musikerinnen gehören der Gruppe Luna Sabanera und Amantes del Vallenato an. Luna Sabanera und Yajaira Yuzira Montes sind zwei Künstlerinnen kolumbianischer Musik: Sabanera und Vallenato. Zwei Frauen sitzen mit ihren kolumbianischen Hüten vor mir, lächeln stolz und berichten mir davon, wie die Cumbia ihr Leben verändert hat.

L: Cumbia Sabanera (Colombiana) hat eine Bedeutung für mich, sie war Freude, sie war ein Trost in schwierigen Zeiten, eine Erleichterung für Menschen, die in den Himmel kamen. Diese Musik weckte in mir schöne Erinnerungen, ließ mich nach vorn schauen ließ, erfüllte mich in den schlimmsten Momenten.

Y: Musik hat mein Leben völlig verändert, seit meinem 19. Lebensjahr bin ich Musikerin. Ich hatte eine sehr schwere Kindheit, aber als ich mich der Gruppe anschloss, änderte sich alles. Ich konzentrierte mich vollständig auf die Musik. Danach begann ich meine Denkweise zu ändern, denn meine familiäre Situation war damals recht schwierig, weil ich alleinerziehend war und mich fragte, wie es weitergehen würde. Ich war noch sehr jung und hatte eine kleine Tochter. Ich wusste nicht weiter. Seit ich mich erinnern kann, seit ich 5 oder 6 Jahre alt war, hat die Musik meine Aufmerksamkeit erregt.


Aber wie ist die kolumbianische Musik nach Monterrey gekommen? Einige MusikerInnen erklärten mir, dass dieser Stil über Schallplatten Einzug hielt, die anfangs von den berühmten Sonideros gespielt wurden. Als sie von bestimmten Leuten akzeptiert wurden, wurden sie immer häufiger auf ihren Partys und Veranstaltungen gespielt und mit der Zeit hörte man sie immer häufiger. Die kolumbianische Cumbia wurde in Häusern, auf den Straßen und bei Veranstaltungen gespielt.
Ruben Pina von der Grupo Ronda Bogotá[6] und Gerardo Guerrero von Klan Barranquillero[7] erzählten mir:

R.P.: Die Sonideros[8]waren die ersten, die diese Musik für uns spielten, die Platten spielten. Wir hörten zu und sagten, wie cool diese Musik sei. Ich spreche hier von den 70er Jahren, 75, 77, wir waren noch Kinder, aber wir erkannten das Akkordeon. Cumbia wurde zuerst auf Platten gespielt, und wir hörten Alfredo Gutierrez, Lisandro Mesa, Aniceto Molina, aber niemand spielte live. Wir hingegen fingen live an und es gefiel ihnen.

 

G.G.: Als ich ein Teenager war, kam ich mit den Sonideros von hier in Independencia nach Puente del Papa. Ich mochte kolumbianische Musik sehr, und über die Platten fing ich an, kolumbianische Musik zu hören, die die Sonideros aus Kolumbien mitbrachten. Ich fing an, kolumbianische Musik zu mögen, ich hatte mein Akkordeon und fing an, Cumbia-Noten zu spielen, Klan Barranquillero ist rein kolumbianische Cumbia.

Es scheint, dass sich die Sonideros die Musik, die anfangs nur auf Acetatscheiben und den ersten Schallplatten zu hören war, aufgrund der globalen Prozesse im Musikvertrieb zu eigen gemacht haben und sich Bewegungen und Kleidung ausdachten, während sie sich als Kolumbianer vorstellten, in Kolumbien zu sein.

Yajaira erklärt:

 Y: Ich denke, dass wir hier in Monterrey den Vallenato[9] übernehmen, als ob wir in Kolumbien wären, denn so fühle ich mich. Ich mag den Vallenato sehr, ich höre viel Vallenato, auch Cumbia, aber Vallenato höre ich häufiger. Wenn ich Vallenato höre, fühle ich mich kolumbianisch, und das hat viel mit Monterrey zu tun. Wenn man nach Kolumbien fährt, heißt es immer: Monterrey!, das kleine Kolumbien. Sie wissen, dass wir es hier lieben, und wir übernehmen ihre Musik, als wäre es unsere eigene.

Eine Ikone der Musik, die der kolumbianischen Cumbia in Monterrey einen eigenen Anstrich und eine authentischere Note verlieh, war Maestro Celso Pina und seine Gruppe Ronda Bogotá, die im Museum von Celso Pina zu Besuch waren. Ich treffe seinen Bruder Ruben Pina, Mitglied der Musikgruppe Ronda Bogotá, der uns erzählt:

R.P.: Wir nahmen im Jahr 1980 auf und schnell wurde Cumbia eine Cumbia für TänzerInnen. Und es war ein Erfolg, aber auch deshalb, weil sie anfingen, sie im Radio zu hören, sie war anders. Die Musik war anders, alle hatten den gleichen Rhythmus (es wurde ein tropischer Rhythmus gespielt) und wir waren anders (es wurde etwas abrupter und schneller gespielt). Sie drehten sich um, um uns zu sehen, weil es so anders war. Ich spreche hier vom Zeitraum 1970-1976.

Diese Neuinterpretation schuf also eine Musik, die sich in Tanz und Kleidung von der in Kolumbien gespielten Cumbia unterschied, erzählt mir Ruben. Die bisher bekannte Kleidung wurde um einen neuen Kleidungsstil erweitert, der Vorurteile und Stigmata gegenüber den Menschen förderte, die in Monterrey kolumbianische Cumbia hörten und tanzten. In dieser Phase entstanden „Colombia“, wie man sie zu nennen begann, ebenso wie die „Cholos“. Die Kleidung und das Aussehen der Haare sind bis heute vielfältig, die Heterodoxie und die Mischung sind charakteristisch für ihre Kleidung; verwaschene Hosen, Halstuch, Converse-Schuhe. Maria Sanchez Loera und Ángel Gutiérrez von Grupo Unión de Cumbia und Luna Sabanera berichten mir:

M.: Wir trafen uns alle an einer Ecke, als plötzlich die Polizei kam und uns festnahm. Hauptsächlich Männer, denn damals kam es selten vor, dass Frauen auf die Polizeiwache mussten. Die Männer kamen zu Routinekontrollen vorbei und sagten zu uns: „Weg da!“, aber wenn Frauen kamen, kontrollierten sie uns. Als die Polizei auftauchte, wurden wir von einer Ecke in eine andere verscheucht. Wir trugen Hochwasserhosen, kurze T-Shirts, Bandanas, die klassischen Converse , die nie aus der Mode kommen.

A.G.: Vor 2006, 2008 trugen wir eine andere Art von Kleidung. Kleidung in Übergrößen. Wenn ein Kleidungsstück zu klein war, konnte ich XXL tragen, damit es groß aussah. Als Frisur trug ich eine Art Kopfdutt, Koteletten...ich ließ mir die Haare wachsen, jetzt sieht es sehr exotisch aus. Ich färbte mir die Haare bunt, aber das war damals halt so Mode. Jetzt hat sich mein Kleidungsstil geändert, ich ziehe mich ein bisschen gediegener an, aber ich trage immer noch die Cumbia in mir. Nur weil man sich anders kleidet, heißt das nicht, dass man den Vallenato nicht in sich trägt. Früher gab es viele Gangs, Leute, die diese Musik mochten, aber sie wurden zu Gangs. Viele trugen genau diese Kleidung und wurden aufgrund ihrer Kleidung diskriminiert. Die Leute stempelten uns als Drogenabhängige ab, Leute, die nichts für die Gesellschaft getan hatten, aber ohne zu wissen, dass die Leute immer gearbeitet haben. Nur aufgrund unserer Kleidung beurteilten und kritisierten sie uns, ohne uns zu kennen.

L: Ich habe viel mit meinen Tanten gestritten, weil sie meinten, „das Mädchen wird mal ein Bandenmitglied“. In Wahrheit wird doch die kolumbianische Musik diskriminiert, weil viele uns als Bandenmitglieder betrachten, als schlecht, als Menschen, die nichts tun. Sie glauben das, weil wir Musik mögen oder uns so kleiden wie wir uns kleiden. Sie glauben, dass wir Nichtsnutze sind, obwohl manche von uns sogar einem Beruf nachgehen, auch wenn dieser bescheiden ist. Ich finde, dass es in der Musik keine Schranken geben sollte, aber sie wird sehr diskriminiert. Ich erinnere mich noch gut an einen Tag, an dem wir das offizielle Video von Luna Sabanera gedreht haben. Als wir mit dem Dreh fertig waren und in der Innenstadt von Monterrey ankamen, wurden wir von der Polizei festgehalten. Sie nahm uns alle mit und stellte vielen Fragen. Ich trug mein Halstuch und war, wie man es hier nennt, im Cholo/Chola-Stil gekleidet, woraufhin die Polizei davon ausging, dass ich ein Bandenmitglied sei. Ich erzählte ihnen, dass ich Luna Sabanera bin, und zeigte ihnen meine sozialen Netzwerke. Sie hatten uns wegen der Kleidung festgehalten und ich gab zu Protokoll, dass wir doch nur ein Video gedreht hatten.

Weder die Musik der Oberschicht noch die traditionelle Musik, die in diesem Fall die Musik des Nordens war, entsprach dem Gefühl der Menschen, die in die Stadt kamen. So wurde die Cumbia zur Musik der Menschen aus den Arbeitervierteln. Jahrzehntelang identifizierten sie sich mit einer Mischung aus Stilen, die Elemente des Chicano, des Hip-Hop, des Punk und der tropischen Musik mit sehr mexikanischen religiösen Elementen wie Skapuliere oder die Jungfrau von Guadalupe verbanden.

Das äußere Erscheinungsbild und die Tatsache, dass die Musik mit Banden und Drogenkonsum in Verbindung gebracht wird, hat bei vielen Kolumbianern ein Stigma hinterlassen.

In einigen Teilen Mexikos beschimpften Menschen andere als„Cholas/Cholos“und meinten damit Menschen, die eine bestimmte Art von Kleidung tragen. Der Begriff wird auch für junge Mitglieder von Banden verwendet. Das Wort „Cholo/Chola“ wurde von den spanischen Kolonisten übernommen und gilt als verächtlicher Ausdruck für Mestizos. Eigentlich bedeutet der Begriff „Diener“, „schlecht“. Doch die städtischen Mestizos - insbesondere die Mittelschicht - wollen sich nicht mit Cholos oder Cholas identifizieren. Im Gegenteil, sie streben danach, weiß zu werden. Und sie offenbaren noch immer einen inneren Kolonialismus, der als eine Struktur, ein Ethos und eine Kultur gesehen wird, die Tag für Tag in der Vorherrschaft reproduziert wird und auf die Auswirkungen und die Verletzbarkeit von Menschen abzielt, die nur aufgrund ihrer andersartigen Kleidung und Art zu sprechen marginalisiert und stigmatisiert werden.

Später traf ich mich erneut mit Ruben Piña, um darüber zu sprechen, warum die kolumbianische Cumbia nach Monterrey kam.

Ruben Piña sagt, sie sei Teil der mexikanischen Folklore und käme nie aus der Mode. Für mich ist sie mehr als nur Folklore, ich betrachte sie als urbane Manifestation, die nicht in den Veranstaltungsprogrammen der Volkstänze in Mexiko auftaucht. Sie ist nicht mehr in den Händen der Regierung, und ihre Präsenz, ihre Modifikationen und ihre Gültigkeit haben auch angesichts des Krieges gegen den Drogenhandel, der Migration und der ökologischen Probleme in der Region nicht nachgelassen. Vielleicht ist das ihre emanzipatorische Kraft. Sie erschafft eine Gemeinschaft von Freunden, die gegen Stigmatisierung und Diskriminierung kämpfen und sogar Gewalt in ihren Vierteln überwinden. Aber vor allem ermöglicht sie Wissen und hinterlässt ein breites Spektrum an Künstlern, von denen viele, wie der Meister Celso Piña, Autodidakten sind und das Ziel verfolgen, für die Nachbarschaft zu spielen.

R.P: Wir haben in der Nachbarschaft gespielt, hier in La Campana[10], im Haus. Dann wurden wir zu einer Hochzeit nach unten gerufen, weil der Trauzeuge ausfiel und keine Musiker mehr da waren. Sie fragten schnell Celso, aber Celso sagte: „Das hab ich zwar noch nie gemacht, ich kenne nur sechs Lieder, also los!“ Wir gingen nach unten, um auf einer Hochzeit zu spielen. Das erste Lied von 1975 war das erste Lied, das Celso zu spielen lernte. Das erste Lied, das mein Bruder allein lernte, heißt, si manana, es ist ein Sohn.

Aber wie könnten wir das benennen, was dem Tanz gelingt, nämlich einen Rhythmus und einen Musikstil in andere Körper, in andere Kontexte zu transportieren? Da er keinen anderen Bezugspunkt als die Musik selbst hat, muss das Imaginäre die Körper einladen, sich von ihren körperlichen Erinnerungen an erlernte Erfahrungen zu lösen. Der Rest sind Metaphern, schöne Metaphern, die den Körper mit seinem Kontext verbinden. Als Choreografin interessiere ich mich jedoch für die Präsenz des Raums, den Kontext, den Tanz in den Stadtvierteln, auf der Straße, die Retas, den Sonidero, die Koexistenz all dieser Elemente, die in rituellen Momenten verwoben sind, performative Momente, die ich an einigen Abenden auf der Terrasse von Mrs. Luke in Independencia erlebt habe.

Dann wurde mir klar, dass ich mich damit identifiziert habe, dass ich mich dort identifiziert habe, wo das Überlieferte der VorfahrInnen auf urbane Subjektivitäten trifft, als Teil eines jugendlichen Aufbegehrens, damals wie heute. Meine Erfahrungen in Mexiko haben mich viel gelehrt. Ich habe Wissen erlangt bei gemeinschaftlichen Begegnungen, bei weniger pompösen Praktiken, in weniger verbalisierter Form, in lebendigeren Ritualen, in urbaner Musik.

Eine gegenwärtige Gemeinschaft setzt sich aus verschiedenen Identifikationsprozessen zusammen, die sich durch bestimmte Teile von Abya Yala ziehen. Sie ist an einem Punkt angelangt, an dem die Geografie sie dazu zwingt, dem Schatten der Vereinigten Staaten zu widerstehen, sie dazu antreibt, sich von den anderen abzugrenzen, von den anderen, die auch in derselben Gesellschaft von Monterrey vertreten sind, in einer klassistischen, diskriminierenden und weißen Gesellschaft. Damit ist der Cholo, der Kolumbianer, die „Rasse“, der Arbeiter, der Fleißige, der die Dinge selbst in die Hand nimmt, der Gegenentwurf zum neoliberalen Geist des Großkapitals in Monterrey.

Und ich tanze gerne die kolumbianische Cumbia von Monterrey, weil sie mit den essentialistischen Diskursen über die Identität von Mexikanern oder den folkloristischen Kategorien des Tanzes und der typischen Kostüme bricht, die allesamt kolonisierte Aspekte der Mestizo-Identität sind. Alex Valdés dazu

A.V.: Wie nennt man diesen Stil? Cumbia, Cumbia Colombiana, Cumbia Colombiana Regia oder der Stil der Cumbia Colombiana Regia aus verschiedenen Bereichen. Die Bewegung ist gereist, die Bewegung kommt nicht von Natur aus aus Monterrey, sie kommt aus Kolumbien, sie kommt aus Afrika, sie kommt aus Europa, von afrikanischen Menschen, die ihre Rhythmen mit den europäischen Menschen mischten, die sie versklavt haben. Sie zog weiter nach Amerika, nach Südamerika, sie mischte die Rhythmen der Menschen in Kolumbien, von Kolumbien geht es weiter nach Argentinien, Peru, Venezuela, weiter nach ganz Mexiko, über den Süden hinweg, sie greift die tropischen Rhythmen auf, zieht weiter nach Kuba, sie wird tropischer, und gelangt dann in den Norden, in diese trockene Zone. Es wir rockiger, es kommt mehr Synthesizer hinzu, es vollzieht sich ein Wandel zum Cumbia-Rock, ein bisschen wie bei Rigo Tovar, Chico ché...langsam nimmt sie eine andere Form an, wer kann dann Cumbia tanzen? Ich habe bereits erwähnt, dass die Cumbia eine weite Reise hinter sich hat, sie respektiert keine Farben, Ethnien, Grenzen und Länder. Und damit wir sie hier tanzen können, hat sie diese ganze Reise hinter sich. Da es sich um eine urbane Information handelt, wäre es sehr schwierig, sie kontrollieren zu wollen, aber die Frage wäre ja auch, wozu einschränken?

Ich entdeckte mich selbst in der kolumbianischen Cumbia Regia, lauschte ihrer Musik, lernte ihre Cumbias zu tanzen und ihre Geschichten kennen. Ich schätze ihr Wissen, das auf Erfahrung beruht und Lehrer in den eigenen Familien findet.

Bei meiner Arbeit als darstellende Künstlerin nehme ich die Perspektive einer zugewanderten, nicht-weißen Person ein und versuche, durch Choreografie den Körper und die Identität als eine wandelbare Einheit zu positionieren. Meine choreografische Forschung konzentriert sich auf Körper und ihre vielfältigen Subjektivitäten sowie auf bestimmte Tänze, die es uns ermöglichen zu erkennen, wie Entitäten durch Identifikationsprozesse aufgebaut werden. Mexiko, wo die Auswirkungen des globalen Kapitalismus derart scharfe Kanten in einer Gesellschaft hinterlassen haben, kann als Hintergrund dienen, vor dem wir mögliche zukünftige Entwicklungen einer verrohenden und auseinanderdriftenden Gesellschaft auch in Europa und Deutschland erahnen können.

Hier ist die erste Notiz, die ich während meines Aufenthalts in Monterrey verfasst habe und mit der ich diesen Text abschließen möchte: 

Fast zwei Wochen nach meiner Ankunft in Monterrey, dem kleinen Kolumbien, ist meine Haut dicker geworden. Mein Körper hat sich daran gewöhnt, den Rhythmus zu polarisieren. Während mein Oberkörper fast unbeweglich bleibt, bemühen sich meine Beine um mehr Beweglichkeit. Meine Wahrnehmung ist langsamer geworden, mein Blick verloren, als wäre er in der Zeit stehen geblieben, aber mein Gang hat sich beschleunigt. Auf dem Weg zu meinem Cumbia-Unterricht beobachte ich vom Bus aus die großen Gebäude, die mit den Bergen zu konkurrieren scheinen. Die hyper-urbanisierten Hügel sprechen zu mir von anderen Kontrasten. Auf der einen Seite „La Independencia“, das „raue“ Viertel vor den großen Villen, die im Grün und der Frische den Mehrwert einer wohlhabenden Gesellschaft suchen.

Monterrey beeindruckt mich immer wieder, nicht nur wegen seiner Gewerbekomplexe, sondern auch wegen der Gegenkultur, die entstanden ist und die der unersättlichen Gier des Kapitalismus und des neoliberalen Extraktivismus widersteht. Ich bewundere die MusikerInnen und die TänzerInnen, in denen die Cumbia ihren Nachhall findet, diese Musik, die durch andere Rhythmen entstanden und geblieben ist, die eigene Grenzen schaffen.

Danke an die Menschen, die ich auf dieser Reise kennengelernt habe!

[1] My research was supported by “die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DISTANZEN] des Dachverband Tanz Deutschland and by the Goethe Institut

[2]   Ich verwende diesen Begriff anstelle von „Identität“, um auf etwas hinzuweisen, das nicht starr ist, sondern ständig in Bewegung.

[3]   Mestizo als ein kolonisiertes Wesen, das dennoch ein radikales Anderssein anerkennt. Rivera Cusicanqui spricht von einer explosiven und nachhallenden „Mestizaje“, die durch Reibung angetrieben wird und uns dazu antreibt, die kolonialen Mandate der Parodie, der Unterwerfung und des Schweigens zu erschüttern und zu untergraben, um eine dekolonisierte „Mestizaje“ zu werden.

[4]   René Zavaleta über „das Varigierte“. Mit diesem Konzept wollte er die Heterogenität unserer Gesellschaft in ihrer ganzen historischen Tiefe verstehen

[5]   Diese Adjektive stammen aus Rivera Cusicanquis Beschreibung der Ch'ixi-Wesen. Sie sind mächtig, weil sie unbestimmt sind, weil sie weder schwarz noch weiß sind, sondern beides gleichzeitig.

[6]   Diese Gruppe hat den Namen der Hauptstadt Kolumbiens, Bogotá, angenommen.

[7]   Diese Gruppe ist nach Barranquilla benannt, einer Stadt, die für Tausende von Einwanderern der Haupteinreisepunkt nach Kolumbien war.

[8]   Sonideros spielen aufgezeichnete Musik der so genannten tropischen Genres wie Salsa und verschiedene Arten von Cumbia - mit Schwerpunkt auf kolumbianischer Cumbia. Der Begriff bezeichnet Discjockeys, die auf Veranstaltungen und Familienfesten auflegen.

[9]

[10] Diese „Colonia“ befindet sich größtenteils auf einem Hügel südlich des Stadtzentrums von Monterrey. Der große Musiker Celso Piña begann hier seine musikalische Karriere.

Zitiervorschlag

Morales, Yolanda. 2022. “My trip to the Cumbia Colombiana in Monterrey“ In: Moving Interventions 2: 
Between Non-cooperation and Community-building Practices of Resilience in dance – through dance – because of dance, December 2022. Edited by / Herausgegeben von: Sarah Bergh and Sandra Chatterjee, with Ariadne Jacoby (CHAKKARs – Moving Interventions), translated (English to German) by: Anja Tracksdorf (Tracksdorf Translations). eZine published by /veröffentlicht von CHAKKARs – Moving Interventions.

Über die Autorin

Yolanda Morales hat ein Tanzdiplom in Mexiko erworben und ihren Master in Performance Studies an der Universität Hamburg absolviert. Seit 2016 arbeitet Yolanda in Hamburg als Choreografin, Tänzerin und Performerin. In ihren choreografischen Arbeiten beschäftigt sie sich mit imaginativen Körpern in utopischen und dystopischen Räumen, die eng mit aktuellen politischen und sozialen Realitäten verwoben sind. In ihrer Produktion 2666 in Koproduktion mit K3 - Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg reflektiert sie den Umgang von Frauen* mit Übergriffen im öffentlichen Raum. Im Rahmen ihres Projekts 20 - 21 Street Hamburg entsteht eine Serie von 21 kurzen Tanzvideoclips als Recherche und Dokumentation zum Thema Frauen* im öffentlichen Raum: Strategien des Widerstands. Im Jahr 2021 wird sie die Tanzproduktion NERVEN im Lichthof Theater aufführen. Yolanda & Team bietet die Bewegungsworkshops und offene Proben an: MOVING IMAGINATIVE BODIES ab 2021 in Kooperation mit dem MARKK - Museum am Rothenbaum. In interaktiven offenen Tanzproben erhalten die TeilnehmerInnen Einblicke in den Arbeitsprozess der Choreografin. Ihre Produktionen werden zu Festivals im In- und Ausland eingeladen, darunter HundertPro in Mülheim an der Ruhr, OUTNOW! FESTIVAL - International Performing Arts Festival in Bremen, Epicentro in Oaxaca (Mexiko) und IAPAR International Theater Festival in Pune (Indien). Im März 2023 wird ihre neue Produktion THE FALLING GARDEN OF SAND am LICHTHOF Theater Hamburg zu sehen sein. Yolanda Morales ist derzeit Teil des Netzwerkprogramms FREISCHWIMMEN und arbeitet derzeit als Dozentin an der Zeitgenössischen Tanzschule Hamburg (CDSH).

 Foto: G2 Baraniak

www.yolandamorales.net

The research for this article was supported by “die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DISTANZEN] des Dachverband Tanz Deutschland and by the Goethe Institut

 
Yolanda Morales

Hamburg

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