Reaching Margins

Dieser Text ist mein Versprechen an *euch -
ein unendliches, verworrenes und meist

figurloses Wesen

durch eine Vielzahl von Wegen

ist es mein Ziel,

ein Archiv zu erreichen, das nicht versiegelt ist, nicht bewacht wird und größtenteils auch das einschließt, was Nicht-Tänzer nicht

als Archiv oder archivierbar betrachten werden

das aber als wesentlich erscheint
wie eine unmögliche Strecke

wie ein Gelübde auf das Unrealisierbare

*ihr als das Archiv, das in, auf und durch meinen Körper aufgenommen ist, in Bewegung, immer.

 

Liebes vertrautes und bestehendes Tanzarchiv,

du bist nicht genug,

du basierst auf Technik, männlicher Dominanz und engen Narrativen

Wir haben beschlossen, dich zu durchbrechen, zu fragen, was hast du vergessen? Was gibt es da noch? Jenseits und neben den berühmten und gut erforschten Namen.

Wir hoffen auf dein Verständnis und wünschen dir, dass du dich erweiterst und vermehrst.

Während wir deine Kontrolle aufheben und vergessenen und unerwähnten Hi-Stories (Geschichten) erlauben, zurückzukehren und sich anderweitig zu enthüllen, begleite uns bitte auf dieser instabilen und aufregenden Reise.“

Touching & Moving Margins, ein laufendes Projekt von Sasha Portyannikova (einer Tanzkünstlerin, die sich mit der „sowjetischen Geste“ beschäftigt), Anna Chwialkowska (Anthropologin, Tänzerin und Dramaturgin) und mir, beschäftigt sich mit Versuchen, Praktiken sowie Ansätzen oder Alternativen zum bekannten Tanzarchiv.
Das Projekt begann aus einer Überraschung heraus, ging über in Wut (gegen die weißen, erfolgreichen und gut wiederholten, nicht hinterfragbaren bekannten Tanzfiguren und Fakten aus der kanonischen westeuropäischen Tanzgeschichte, die wie Schlaflieder ständig wiederholt werden) und setzte sich von dort aus als übermäßig ehrgeiziger Vorschlag für eine Arbeitsformation in Richtung eines Gegenarchivs/Forschungslabors fort, das sich derzeit ständig verschiebt und reformiert:

Eine Web-Plattform, die die Form eines Alter-Archivs, eines Online-Magazins, einer Studiengruppe mit internationalen TeilnehmerInnen und GastdenkerInnen annimmt. Sie verfolgt einen offenen Ansatz und ein ständiges Interesse an Durchlässigkeit und Möglichkeiten zur Transformation

Einige der Fragen, denen wir uns im Rahmen des Projekts Touching & Moving Margins stellen, lauten:

Wie verändern wir die oft wiederholten Hi-Stories?
Wie hören wir einander zu, geben uns gegenseitig eine Bühne und Werkzeuge an die Hand, um das Tanzerbe als komplexes, problematisches und breit gefächertes Thema zu verstehen?
Wie bleiben wir neugierig auf Hi-Stories, auf Perspektiven und auf die Neugier der anderen?
Wie praktizieren und transformieren wir derzeit Wissen und Artefakte aus der Vergangenheit?
How do we want to preserve, archive, un-archive, otherwise-archive and relate to archival materials from the past?
Wie problematisieren, hinterfragen und fordern wir die Perspektiven heraus, die wir als TeilnehmerInnen, Tanzschaffende und ForscherInnen einnehmen
Wie erinnert uns das Tanzarchiv an die Unvollständigkeit und Voreingenommenheit bei dem Versuch, den Tanz zu archivieren?
Wie schaffen wir unser eigenes Tanzarchiv, das nicht den bekannten Archiven folgt?
Wie unterstützen uns Erfindung, Erdichtung und 'Hacking' bei solchen Versuchen?

Wir beschließen, ausgewählte und nicht ausgewählte VorfahrInnen in den Vordergrund zu rücken, unsere Mission, unsere Inspirationsquellen, Beispiele, Notizen, Videos, Zitate und Handbücher - wenn auch nur auf dem Bildschirm - einzubeziehen, das zu beschwören, was wir nicht gelernt haben oder wissen oder woran uns andere haben zweifeln lassen, dass sich eine Investition darin lohnt.

Wir müssen anfangen, unsere eigenen Fehler zu machen - Mysterien
Wir müssen Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit praktizieren
Wir müssen in ehrliche, lang anhaltende und geduldige Neugierde investieren
Wir müssen uns erinnern, und das immer wieder, wie unsere Vergangenheiten uns prägen, immer und immer wieder
Wir müssen anerkennen, dass es sich lohnt, unmögliche Versuche zu erzielen
Wir müssen uns immer wieder weigern und ungewohnte Wege beschreiten
Wir müssen immer wieder neu beginnen und uns auf das Ungewohnte einlassen, das geschieht, wenn wir unbequeme Türen und Brücken berühren
Wir müssen unser Wissen bewegen, aufrütteln, in Beziehung setzen und dafür sorgen, dass Prozesse von Dauer bleiben - jenseits der produzierenden neoliberalen Maschinen.

Weitergehen, wie weitergehen?
Ich schlage vor, rückwärts zu gehen, in einer Stadt oder im Wald, inmitten allem, der Zukunft entgegen, die Vergangenheit betrachtend, mit den Fersen fühlend, den Zehen eine Pause gönnend, einen Momen

Wo hat das Projekt begonnen? Im August 2019 wurde ich eingeladen, an einem Programm teilzunehmen, das eine Gruppe von Alumni und Tanzstudenten aus der ganzen Welt zusammenbrachte, um sich auszutauschen, zu lernen und Teil des „Jahrhundert des Tanzes“sein. Die Akademie der Künste in Berlin organisierte eine Ausstellung, ein Programm mit Workshops und Performances, die zum Ziel hatten, das Tanzerbe der letzten 100 Jahre zu betrachten.
Dieses Programm erfüllte sein eigenes Ziel und präsentierte die berühmtesten, weißen und heteronormativen ChoreographInnen des letzten Jahrhunderts. Es war wie eine absurde Aufführung des Bekannten, des Erfolgreichen, des wiederholt Erwähnten. Eine Wiederholung, die einen erschöpft, unbeeindruckt zurücklässt und die Frage aufwirft, wozu eine solche Wiederholung überhaupt nötig ist.
Einige KollegInnen – Studierende und AbsolventInnen, die zusammen mit mir ausgewählt und eingeladen wurden – fragten sich, warum die OrganisatorInnen keine Situationen für einen gegenseitigen Austausch und ein gegenseitiges Lernen geschaffen hatten. Wenn das der Grund für unsere Teilnahm war, wie kommt es dann, dass es für unsere eigene Forschung in Sachen Tanzarchiv keinen wirklichen Platz gab, wo wir uns hätten austauschen können. Wie kommt es, dass wir keinen richtigen Platz finden, um zu hinterfragen, uns auszutauschen, uns zu befragen und zu zweifeln (innerhalb des Programms und auch sonst - als Tanzkünstler, die manchmal AkademikerInnen sind und manchmal nicht)? Warum werden wir aus der ganzen Welt eingeladen, zu dieser zentristisch-europäischen, unerreichbaren Aufführung dessen, was jetzt ohne Kritik oder hochgezogenen Augenbrauen als völlig unpositionierbar erscheint.


Das Gefühl der Wut, der Ungerechtigkeit und der Performativität der Institutionen bei der Hervorhebung von Herrschafts- und Machtstrukturen war beunruhigend und besorgniserregend; und dennoch verlangte es irgendwie nach einer Antwort.

Dort lernten Sasha und ich uns kennen. Zu dem Programm kam ich über mein MFA-Studium an der University of the Arts in Philadelphia (unter der Leitung von Donna Faye Burchfield und Thomas F. DeFrantz), das in seinem Ansatz kritisch und aktuell ist. Inspiriert von diesen Studien war ich voller Fragen und bereit, das, was auf dem Campus vorgeschlagen wurde, zu unterlaufen. Ich war bereit, einen Gegenentwurf zu dem, was als Darstellung der Tanzgeschichte in Deutschland heutzutage unglaublich zu sein schien, zu manifestieren.
Ich war offen dafür, mir etwas anderes auszudenken, das eine Öffnung zu dem bietet, was uns das System, die Institutionen und Wissensstrukturen als klares, einseitiges und lineares Narrativ zur Geschichte, des Tanzes und des Praktizierens lehren.

Die individuelle Forschung von Sasha nennt sich „Handbuch für den praktischen Gebrauch eines Tanzarchivs“ bezeichnet: Choreologische Experimente oder wohin uns die sowjetische Geste geführt hat“. In diesem Buch untersuchen sie und ihre Co-Autorin Dasha Plokhova ein Archiv aus Textdokumenten. In diesen Dokumenten werden Tanz- und Bewegungsexperimente festgehalten, die vom Forschungsausschuss im nachrevolutionären Moskau zwischen 1923 und 1929 durchgeführt wurden. In meiner Forschung untersuche ich die Entwicklung von Huldigungen, Praktiken und Annäherungen an homosexuelle Künstler aus meiner Familie (aus jüdischen Vorfahren und erweiterten Familienmitgliedern), die an HIV-AIDS gestorben sind. Ich betrachte meine Beziehung zu ihnen auf poetische Weise und durch verkörperte Gesten und nähere mich den verschiedenen Begegnungen mit ihnen choreografisch und künstlerisch. Wir begannen damit, Interviews durchzuführen und gingen dann dazu über, Praktiken in einem Labor zu entwickeln, das sich dann von den Rändern aus Tanzarchiven nähert um dem Wissen Raum und Bühne zu geben, das unbemerkt, hinter oder außerhalb der Hauptbühnen liegt und das wichtig ist, um ein besseres Verständnis oder einen breiteren Blickwinkel darauf zu bekommen, wie wir durch die Linse des Tanzes in diesen Moment angekommen sind.

Wir fanden es sehr wichtig, zunächst in Berlin ansässige Tanzkünstler zu engagieren und später solche, die in Deutschland leben und langsam internationaler tätig werden, um die lokale und situierte Perspektive zu betonen.
Wir versuchten, Perspektiven und Ansätze zu erreichen, die ihren Ausgangspunkt außerhalb Europas haben und solche, die Institutionen, lineare Wissensproduktion, dekoloniale Bestrebungen, Tanzpädagogik und Teilaspekte der Geschichte des Tanzes auf die Art und Weise hinterfragen, wie wir sie kennen und lernen. 

Abschließend möchte ich einige Schlüsselwörter nennen, die für uns entscheidend sind:

Inklusion

Unser Projekt zielt darauf ab, den traditionellen Kanon und das Archiv des Tanzes zu erweitern und neu zu überdenken, wer Zugang dazu hat. Als Tänzerinnen und Tänzer, die mit einer vertrauten und gut erzählten Geschichte darüber aufgewachsen sind, wie der westliche Tanz zu dem wurde, was er heute ist, möchten wir diese Geschichte überdenken, in Frage stellen und anzweifeln, indem wir Stimmen von den Rändern, von nicht westeuropäischen Perspektiven und Tänzern/Tanzschaffenden/Lehrern/Tanzkritikern/Denkern und Persönlichkeiten einbringen, die uns und unser Wissen darüber, was Tanz ist und sein kann, geprägt haben.

Das Partielle

Die „Touching & Moving Margins“-Projekte zielen darauf ab, unsere Perspektiven zu erweitern, und sind doch immer nur partiell, im Entstehen begriffen, ein Versuch, das Unvollendbare zu sammeln. Wir begannen damit, unsere eigene Forschung zu betrachten, die sich mit unseren eigenen Archiven befasst (queere, familiäre und unerkannte Archive) und wandten uns von dort aus an Verbündete, mit der Bitte sich uns anzuschliessen.

Entscheidend scheint hier unser Wunsch zu sein, die Frage aufzuwerfen, wie wir in dieses Alter-Archiv praktische Werkzeuge, zeitgenössische Auffassungen und experimentelle Ansätze einbeziehen können, die nicht notwendigerweise dem entsprechen, wofür ein Archiv gedacht ist, sondern sich vielmehr gegen Beständigkeit, Ausschluss, Hierarchie und starre Kategorisierung in diesem Tätigkeitsfeld und in unserer Art, es zu kennen, auszuüben, zu praktizieren und zu dokumentieren, wenden.

Wut

Die Idee für das Projekt „Margins“ entstand aus Wut, Uneinigkeit und der Forderung nach Veränderung. Ich betrachte dies als Modell. Wut kann ein Motiv sein zu handeln, zu bekunden, Verbündete zu finden und hinter sich zu versammeln und Anerkennung und Unterstützung zu fordern.

Zitiervorschlag: 

Margaliot, Nitsan. 2022. “Reaching Margins“ In: Moving Interventions 2: 
Between Non-cooperation and Community-building Practices of Resilience in dance – through dance – because of dance, December 2022. Edited by / Herausgegeben von: Sarah Bergh and Sandra Chatterjee, with Ariadne Jacoby (CHAKKARs – Moving Interventions), translated into German by: Anja Tracksdorf (Tracksdorf Translations). eZine published by /veröffentlicht von CHAKKARs – Moving Interventions.

Über die Autorin

Nitsan Margaliot ist ein in Berlin lebender israelischer Choreograf, Tänzer und Kurator, der sich mit queeren Archiven, Fabulationen und unmöglichen Begegnungen beschäftigt.

Nitsan hat ein MFA von der University of the Arts in Philadelphia, wo er seine Forschungen über die subjektive Beziehung zur Zeit durch Schriften und Installationen weiterentwickelte. 

Im Jahr 2020 initiierte er TouchingMargins.com, eine Web-Plattform, ein Alter-Archiv zusammen mit Sasha Portyannikova und The Platform, eine Organisation, die zusammen mit Tamar Sonn daran arbeitet, nachhaltige Bedingungen für freiberufliche Tänzer in Israel zu schaffen.

In 2022 he had research residencies at HELLERAU and at tanzhaus nrw, he will be creating a choreo-installation, group work at SomoS Arthouse Berlin and a solo work at PATHOS Munich, alongside that he co-curates Movement Research ACROSS at Galerie Wedding.

Seine Arbeiten wurden unter anderem bei 14StreetY NYC, Vitlycke Centre for Performing Arts Sweden, Israel Festival, Radialsystem, English Theatre Berlin, Soundance Festival - Dock11, Adama Festival, Jewish Community Festival - Frankfurt at LAB Frankfurt, Barnes Crossing und Kelim Choreographic Center gezeigt.

nitsanmargaliot.com

Nitsan Margaliot

Berlin

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