Wenn ich nicht tanzen kann, will ich nicht Teil eurer Revolution sein

Du bist am Delhi International Airport angekommen und fühlst Dich rein, göttlich und natürlich gesegnet, gesegnet durch den Neo-Hinduismus. Du hast das Gefühl, das ist Indien, oder zumindest dass Indien so aussehen müsste. Sehr akkurat. Eine Skulptur oder Statue einer perfekten indischen Frau, die einen traditionellen indischen Sari trägt und eine klassische indische Tanzhaltung einnimmt, heißt Dich willkommen. Dann verlässt Du diesen heiligen Ort, steigst in ein Taxi, und wenn Du Pech hast, ist der Taxifahrer ein Muslim! Anstatt die göttliche Stimmung, in die Du unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen versetzt wurdest, weiter genießen zu können, lässt der Taxifahrer einen miesen Bollywood-Song auf der miesen Stereoanlage seines hässlichen Autos ertönen, und die ganze Stimmung ist dahin. Ach! Indien ist nicht so rein, nicht so göttlich, nicht so korrekt.

Ja, wir leben hier, wir lieben hier, wir kopulieren, wir gebären und wir tanzen. Daher kann unser Tanz nicht rein, göttlich und akkurat sein, und er kann nicht gesegnet oder inspiriert sein durch den Neo-Hinduismus der globalen Islamophobie. Unsere Tänze sind wie unsere TänzerInnen! Marginal, ungleichmäßig, improvisiert. Aber diese Art von schmutzigen Tänzen ist nicht erlaubt. Obwohl die meisten von uns auf diesem Subkontinent eine braune Hautfarbe besitzen, müssen wir beim Tanzen weiß aussehen. Denn Inder sind Hindus, Hindus sind Arier und Arier sind hellhäutig. Einfache Logik! Deshalb schminken wir uns und müssen auf der Bühne gut aussehen. Wir alle wissen, wenn Du nicht weiß genug bist, siehst Du nicht gut genug aus, und auch Dein Tanz ist nicht gut genug. Kurzum, unser Tanz ist von unserer Realität abgespalten, weil unsere Ästhetik unwirklich, unecht und damit korrupt ist.

Wir haben dieses neue, strahlende Indien hervorgebracht, in dem Korruption absolute Geltung erlangt hat und Kriminalisierung an der Tagesordnung ist. Wir sind im 75. Jahr unserer Unabhängigkeit. Wir hatten vor, dieses Jahr mit einem riesigen Budget zu feiern, das von der indischen Regierung bereitgestellt wird. Während dies geschieht, erleben die meisten Menschen diese Feierlichkeiten unter größtem Hunger. Nein, Hunger ist hier nicht symbolisch gemeint, Hunger bedeutet köperlichen Hunger, Hunger nach Essen. Der Tanz ist natürlich der wichtigste Teil unserer Feier, aber der Hunger auch. Wir sind also hungrige TänzerInnen. Hungrig nach Essen und hungrig nach Tanz.

Diese Feier, diese Feste, die Lichter, die Musik, die nagelneuen Kleider, die Schokolade, die Coca-Cola und der Rolls-Royce haben uns abgelehnt, und wir haben auch sie abgelehnt. Unser Fest entsteht durch diesen Prozess der Ablehnung. Wenn wir tanzen, lehnen wir den Tanz ab. Wenn das glänzende Indien das Klassische schützt und projiziert, werden wir anti-klassisch sein. Wenn Autoritäten sich im Flüsterton über die Vergangenheit und ihren Ruhm unterhalten, fordern wir lautstark ein, über die Gegenwart sprechen zu dürfen. Sie ist hässlich, sie ist furchtbar, sie ist obszön.

Ich wohne in einem Ort namens Howrah. Es ist ein Bezirk mit vielen Slums, Mühlen und absoluter Armut. Arbeitslose Fabrikarbeiter, die zu Alkoholikern wurden sowie vielversprechende Fußballer, die heute Rikschas fahren, sind hier keine Seltenheit. In diesen Elendsvierteln ist es ein großer Luxus, ein Individuum zu sein. Man hat schon Glück, wenn man ein Bett neben seinem älteren Bruder und seiner Schwägerin bekommt. Wenn nicht, schläft man auf der Straße auf einem tragbaren Bett. Man ist erschöpft und bewegt sich langsam und repetitiv.

Man tut das Gleiche wie ein Sportler beim Training. Und man tut es kollektiv, denn ein Individuum zu sein ist purer Luxus. Man führt also seit Ewigkeiten kollektiv dieselbe sich wiederholende Bewegung aus. Fast wie bei einem Ritual, einem urbanen Ritual. Unsere Reise ist das Gegenteil einer klassischen Performance. Sie konstruierten Mythen. Ihre Reise führt vom Mythos zum Ritual. Bei uns vom Ritual zum Mythos. Ja, wir haben einen anderen Zugang zum Tanz, weil wir einen anderen Zugang zum Leben haben. Sie sind klassisch, weil sie sich ihrer Klasse bewusst sind, und wir sind anti-klassisch, weil auch wir uns unserer Klasse bewusst sind. Wir sind klassenmäßig unterschiedlich, genau wie unser Tanz. Martha Graham schrieb in ihrer Autobiografie: „Ich glaube, der Grund, warum der Tanz eine so zeitlose Magie auf die Welt ausübt, liegt darin, dass er das Symbol für die Darbietung des Lebens war.“

Wir leben das Leben der Unterdrückten und können nicht dem Zweck eines Unterdrückers dienen. Wir können nicht in ihrer Sprache, in ihrem Vokabular oder in ihren Begriffen tanzen. Wir müssen unser eigenes Vokabular, unsere eigene Sprache und unseren eigenen Tanz erschaffen. Einen Tanz des Widerstands. Er soll aus unserem täglichen Leben entstehen. Aus unseren täglichen Gesten. Anstatt schön auszusehen, müssen wir in unseren Körperbewegungen wahrhaftig sein. Und um dies mit unserem Körper zu ermöglichen, müssen wir unseren Körper überhaupt erst einmal verstehen. Es herrscht eine große Kluft zwischen unserem physischen Körper und unserem konzeptuellen Körper. Der konzeptuelle Körper wurde durch kulturelle oder kulturelle Hegemonie geschaffen. Der konzeptuelle Körper ist stärker als der physische Körper. Als würde der konzeptuelle Körper eine Idee erschaffen und der physische Körper dazu tendieren, genau diese Idee auszuführen! Es ist wie beim Unterschied zwischen Arbeiten und Denken. Als wären dies zwei verschiedene Einheiten, als würde die Arbeit an sich kein Denken erfordern. Wir lehnen die Vorherrschaft der Intellektuellen über die Arbeiterklasse ab. Wir werden unsere Arbeiterkultur mit unserem physischen Körper erschaffen, der gleichzeitig denkt und Ideen ausführt. Auch hier möchte ich Martha Graham zitieren, die in ihrer Autobiographie Blood Memory schrieb: „Ich glaube, dass wir durch Übung lernen. Egal, ob man nun zu tanzen lernt, indem man das Tanzen übt, oder ob man zu leben lernt, indem man das Leben übt, die Prinzipien sind dieselben.“ Jetzt zitiere ich einen großen Filmemacher, Ritwik Ghatak, der einst sagte: „Denken, denken, man muss das Denken üben.“ Und nun möchte ich Martha Graham und Ritwik Ghatak gleichsetzen - wir lernen durch Übung. Wenn wir Tanzen üben, lernen wir zu tanzen, wenn wir Leben üben, lernen wir zu leben, und wenn wir Denken üben, lernen wir zu denken. Wenn wir alle drei gleichzeitig üben, lernen wir denkenden, lebendigen Tanz. Unser Tanzkörper ist gleichzeitig ein arbeitender und ein denkender Körper. Unser Tanz ist gleichzeitig körperlich und geistig.

Zitiervorschlag

Bhattacharjee, Joyraj. 2022. “Wenn ich nicht tanzen kann, will ich nicht Teil eurer Revolution sein. “ In: Moving Interventions 2: 
Between Non-cooperation and Community-building Practices of Resilience in dance – through dance – because of dance, December 2022. Edited by / Herausgegeben von: Sarah Bergh and Sandra Chatterjee, with Ariadne Jacoby (CHAKKARs – Moving Interventions), translated into German by: Anja Tracksdorf (Tracksdorf Translations). Published by /veröffentlicht von CHAKKARs – Moving Interventions.

Über die Autorin

Joyraj Bhattacharjee ist ein politisch integrierter Kunstschaffender. Er bekommt viele Angebote, in verschiedenen bengalischen Filmen mitzuspielen, nimmt sie aber nur selten an und lehnt sie meistens ab. Wenn ein Regisseur nur wenig Geld, aber eine hervorragende Idee hat, ist Joyraj die erste Wahl für ihn. Auf der Bühne macht er heute mehr Propaganda und weniger Kunst. In den letzten Jahren hat er auch eine Leidenschaft dafür entwickelt, Nächte in Polizeigewahrsam zu verbringen.

Joyraj Bhattacharjee
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