Rückkehr ins Territorium

Als Kind von Peruanern in der Diaspora entstamme ich einer Familie von Menschen, die den Schritt ins Ungewisse gewagt haben. Sie flohen vor Armut und sozioökonomischem Chaos. Nach dem Verlust jeglicher Hoffnung darauf, dass ihre Regierung sich um ihr Leben und die Zukunft ihrer Familien kümmern würde, verließen sie ihre Heimat in der festen Überzeugung, dass Leid oder ein früher Tod die Hoffnung auf ein besseres Leben für ihre Nachkommen lohnt. Sie waren es leid, auf eine Revolution zu warten, die zwangsläufig gewaltsam niedergeschlagen werden würde.

Nicht alle Migranten sind gleich. Mir ist bewusst, dass meine Großeltern und meine Mutter zu denjenigen gehörten, die über wirtschaftliche Mittel verfügten. Sie beantragten ein Visum und setzten sich in ein Flugzeug, um das sinkende Schiff, das Peru Mitte der 1980er Jahre war, zu verlassen - als Teil eines Massenexodus der peruanischen Mittelschicht. Der Abstand zur herrschenden Klasse in ihrem Heimatland war groß, aber auch der Abstand zu den Ärmsten der Armen war komfortabel groß. Peru ist ein Kontext, in dem Marginalitäten mit jeder gestürzten Regierung unter immer verzweifelteren Umständen sichtbar werden. Es ist ein Territorium, in dem vertriebene und gebietslose Bevölkerungsgruppen die Hauptauswirkung eines Nationalstaates zu spüren bekommen, der bereit ist, sie dem Profit zu opfern.

Unlike my great-uncle who was beaten and imprisoned during the Socialist student and worker uprisings in Lima between 1932-1945, my other family members were unwilling to die for their ideological beliefs. When survival is of utmost importance, the system has already won, divided, and conquered communities and families. My father’s story is vastly different and will remain unwritten. There is dignity in silence and unanswered questions.
I was brought to suburban Los Angeles, California, the unceded indigenous territories now known as the United States. By age four, I consciously participated in stripping myself of all familial identities and ties in order to pass through school systems. I danced ballet from a young age, my mother’s American dream, where both informal and studio dance training shaped my body and mind. Exceptionalism led to family/cultural separation and indoctrination into a belief system that celebrates the idea of the “American,” the genius choreographer performing a twisted “democracy” where a singular figure controls and manipulates dancers like objects and changes the dominant history of dance by appropriating all sorts of cultural heritage from so-called primitive peoples.

Der eurozentrische US-amerikanische Tanz und sein exportierter Einfluss auf den globalen Markt ist wie ein Großelternteil, den die internationalen zeitgenössischen Tänzer von heute entweder ignorieren, verspotten oder weiterhin hochhalten. Einigen ist das vielleicht sogar ein bisschen peinlich. Würden wir nicht alle gerne widersprüchliche Komplikationen ignorieren? Aber gerade sie sind der Grund, warum wir eine Konzertbühne haben, auf der wir auftreten können, ob wir nun Tänze darauf aufführen möchten oder nicht. Sie sind der Grund dafür, dass wir von einer Karriere sprechen können, so prekär diese heute auch erscheinen mag. Dies bedeutet, es ist an uns, den zeitgenössischen Tänzern von heute, einer Arbeit nachzugehen, die über die Binarität von elitärer Kunst und kommerzieller Unterhaltung hinausgeht und zu Strategien des Widerstands und des kollektiven Überlebens beitragen soll. Wir arbeiten nicht innerhalb einer rein theoretischen Form. Beim Tanz geht es um den sich erinnernden Körper in allen Formen der An- und Abwesenheit.

Mein Widerstand begann als College-Studentin auf der Tanzbühne. Vielleicht ist das der Geist meines Großonkels, der meinen Körper durchdringt und immer dann Alarm schlägt, wenn er sich in seiner Freiheit unterdrückt fühlt. Mein Tanz will aus dem Wissen um die Vorfahren und aus der Beziehung zwischen den verschiedenen kulturellen Erfahrungen meiner laufenden Ausbildung hervorgehen. Im Gegensatz dazu war ich während meiner Bachelor-Ausbildung immer wieder Opfer von wiederholtem Gaslighting und wurde zum Schweigen gebracht. Ich wurde gezwungen, für einen kritiklosen Lehrplan zu bezahlen, der mir „Beschäftigungsfähigkeit“ versprach, der eine Kultur der Knappheit, der hegemonialen Strukturen und des blinden Gehorsams aufrechterhält. Ich weiß noch, dass ich mir manchmal wünschte, ich könne einfach die Klappe halten und es akzeptieren, aber mein Bauchgefühl ließ dies nicht zu.

I thought I could find answers to my questions by returning to the motherland. I made trips back to Peru starting in 2004 and lived in Lima between 2010-14. As I was born there, I have access to documentation like any other Peruvian-born person, a privilege not afforded to other migrating bodies. I arrived in Peru as a person with an education from the United States. With just a few years of professional dance trajectory, I was selected over my locally-educated peers to represent them on stages and in front of classrooms. This social mobilization not afforded to my biological kin was something that I did not reflect upon until many years later in the study of white supremacy culture and white power. Despite my resistance, I had learned to dance white and perform whiteness, and I was rewarded for it.

My mother is a dancer who studied and performed several of Peru’s most popular traditional dances from the perspective of the urban capital. Because of her skin color and appearance, as a child, she was not accepted into European traditional dance schools in Lima. Peru is a country of over 5000 dances. Coming from a territory named nation-state which assembles diverse indigenous and Afro-descendant cultures, languages, and ethnicities without a commitment to supporting these contemporary manifestations beyond their benefit to the tourism economy, I have frequently asked myself, what does it mean to be a Peruvian dancer, living in diaspora, dancing ballet and modern dance?

Ich tanze, weil meine Mutter mich in die Sprache des körperlichen Ausdrucks und der Kreativität eingeführt hat. Sie war es, die mich zum Ballettunterricht mitnahm und mich ermutigte, von etwas Größerem zu träumen, als es mir das öffentliche Schulsystem in den USA bieten konnte. Das löste unweigerlich Schuldgefühle in mir aus, denn ich sah auch, wie meine Eltern 16-Stunden-Schichten im Dienstleistungs- und Pflegesektor arbeiteten. Durch ihre Überarbeitung wird meine Überarbeitung zu einem sich wiederholenden Muster, bei dem wir versuchen, unsere durch die Rassifizierung entzogene Menschlichkeit durch harte Arbeit zurückzugewinnen

In den letzten Jahren habe ich mich selbst wegen meiner Erfolge gegeißelt, als wären sie Privilegien und nicht hart erkämpft. Ich wurde dazu erzogen, nach US-amerikanischem Weißsein zu streben. Selbst immer besser zu werden und deshalb nicht die Narrative meiner Eltern zu wiederholen. Während meiner Tanzausbildung entwickelte ich eine Essstörung und fügte dadurch meinem jugendlichen Körper Schaden zu. Ich habe zu viel Sport getrieben. Ich versuchte so sehr, ein unerreichbares Bild davon zu erfüllen, wie mein Körper aussehen und sich bewegen solle, bis ich am Ende merkte, dass mir die freudige Neugier abhanden gekommen war, die ich noch erlebt hatte, bevor ich in die künstlerischen Ausbildungsstätten kam.

Mit dieser Mentalität wird dieselbe Machtdynamik erzeugt, unter der ich zu leiden hatte. Wie es die afro-peruanische Theaterkünstlerin Victoria Santa Cruz oft zu sagen pflegte, lebt der Feind im eigenen Haus. Allzu leicht wird der Unterdrückte zum Unterdrücker seiner selbst und anderen. Mir wird klar, dass ich, als ich in Peru lebte, auch mit weißen Vorstellungen von Professionalität ankam und meinen Schülern diese vermittelte, sie aufforderte, dieselben Ideale zu vertreten, denen ich mich unterworfen hatte. Dies geschah ohne ausreichende Reflexion.

Inzwischen sehe ich meine Fehler. Wie kann ich mich dafür entschuldigen? Vielleicht ist das Verfassen dieses Artikels Teil dieses Prozesses. Vielleicht war ich eine weitere Kolonisatorin geworden? Als Fremde, als Extranjero, nicht aufgrund von Genen, sondern aufgrund einer kulturellen Erziehung, die auf weißen suprematistischen Strukturen aufbaut. Mein Eintritt in eine Gemeinschaft und mein gedankenloses Ergreifen der Möglichkeiten, die sich mir boten, war in einigen Fällen unangemessen. Vielleicht war der Schritt zurück die beste Option. Innezuhalten und umzudenken.

Wenn ich in ein imperialistisches, rassistisches, unter weißer Vorherrschaft geführtes Land wie die Vereinigten Staaten zurückkehre und nun eine komplexe wirtschaftliche Supermacht wie Deutschland betrete, setze ich mich mit meinen multiplen Identitäten auseinander und lerne sowohl dominante als auch subversive Narrative in Bezug auf diese geografische Veränderung kennen. Meine Identitäten entwickeln sich kontinuierlich weiter. Ich verstehe mich als US-Amerikanerin und in Diaspora Lebende, als Peruanerin, als in jungen Jahren in die USA Ausgewanderte und jeden Tag auch ein bisschen mehr als Deutsche.

Heute bereite ich mich auf eine Reise zurück nach Peru vor. Ich habe die Absicht meiner Anwesenheit gründlicher überdacht. Was könnte ein nicht-extraktiver Weg sein zu lernen, zu forschen und neue Gemeinschaften zu treffen? Was bedeutet es, wie Tänzerin Suzette Sagisi sagt, ein liebenswürdiger Gast zu sein? Ich tanze mit diesen Fragen.

Auf dieser Reise werde ich von Cynthia Paniagua angeleitet, einer weiteren peruanischen Tänzerin, die in der Diaspora aufgewachsen und ausgebildet ist und dort lebt. Sie betreut ein Programm mit dem Namen „Dance Your Ancestors“, das mich und andere Peruanerinnen in der Diaspora dazu anleitet, „sich sein Geburtsrecht zurückzuholen“. Das sind Konzepte, die mich ansprechen, mit denen ich aber auch Schwierigkeiten habe. Was ist mein Geburtsrecht? Welche Rechte habe ich in Bezug auf das kulturelle Erbe?

I am a descendent of Andean and Coastal (Limeñan) mestizos. Mestizo is a nice word for mixed-race peoples. Like the development and political utilization of race in Mexico, Peru pushed for nation-state building using the concept of mestizaje and thus repressed indigenous identity and invisibilized Afro-Peruvian descendants. I am highly uninterested in defining myself racially like one would classify a dog, sheep, or horse. I am not an object for further breeding and use to its owner or master. I believe that a personal process of decolonization requires a rejection of biological ideas of race and identity because in that game, whiter is always better.

Through my experiences working as a professional dancer dealing with themes of representation and frustrated by experiences of discrimination, I cannot avoid my brownness. Even if I wanted to forget, I am reminded by instituitional structures, daily on the street and more hurtfully, by my white peers, over and over again. Through my movement practices, I also recognize the hegemonic ways I have been taught to think about my body and its expression. This is a form of embodied whiteness: controlled hips, eliminating movements that could be considered obscene, limiting emotional expressivity, emphasizing athleticism and virtuosic physical capacity, and a celebration of intellectual, conceptual contortionism which can be written down and academically understood.

Angetrieben durch meine Neugier und meine persönlichen Interessen fühle ich mich zu den Tanz- und Musiktraditionen und -praktiken meiner VorfahrInnen und KollegInnen in Peru hingezogen. Aber wie kann ich bei all meinen Recherchen, meiner Ausbildung und der Arbeit, die ich tue, um mir meinen Lebensunterhalt innerhalb weißer Strukturen zu verdienen, mein Weißsein in Aktion unterbrechen? Welche Proben müssen stattfinden? Welche wesentlichen Denkprozesse können mir helfen, nicht wieder als Kolonisatorin, als Unterdrückerin oder als Touristin zu handeln, die nimmt und dabei vergisst, etwas zurückzugeben?

For this, I must remember that dance was never meant to be a marketable good which can be bought and sold. In today’s capitalist structure, those of us who dance (for a living?) sell our dances and our bodies and the images they produce. For people who make a living dancing in Peru, we sell our dances as tourist or theater attractions designed for the delight of white guests. But as said, dance is not only spectacle or entertainment. When I engage as a dancer, learn, and share and participate in the same dance forms which are utilized for tourist spectacle, there are complications. Is my own gaze and imagination already corrupted?

Ich kann die Welt um mich herum nicht kontrollieren, aber ich kann mich auf meinen inneren Prozess konzentrieren. Erwarte ich von Lehrern in Peru, dass sie die gleichen Methoden anwenden wie meine Kollegen in Deutschland? Warum sollte ich das tun? Wie werde ich ein freundlicher Gast? Kann ich meine Erwartungen aus einem anderen Kontinent vergessen?

Das peruanische Kulturerbe ist nicht mein Geburtsrecht. Es ist nicht mein Recht, weil es weder mir gehört, noch jemand anderem. Der Tanz sollte nie einen Besitzer haben. Wie Cristina López Suárez mir kürzlich während einer Residenz beim NAKA Dance Theater sagte: wir sind nur Verwalter oder Hüter des kulturellen Erbes. Es gibt einen Prozess der Überlieferung, der durch mündliche Traditionen und Bewegungstraditionen weitergegeben wird, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation.
Ich reise nach Peru, um um Erlaubnis zu bitten und zu lernen, wie ich eine bessere Kulturträgerin sein kann. Ich möchte mit meinen Gemeinschaften, die in der Diaspora leben, mit meinen KollegInnen und Studierenden in Deutschland, die ernsthaft etwas über eine Tradition lernen wollen, darüber sprechen, wie man seine tänzerischen Fähigkeiten nicht deshalb verbessert, um vermarktbarere TänzerInnen zu werden, um kulturelle Aneignung zu betreiben oder zu stehlen, sondern um an diesem kollektiven Akt der Pflege teilzuhaben. Ich kehre mit offenem Herzen in das Territorium zurück, bereit, mich zu verändern, zu lernen und zu verlernen, mich mit meinen Vorfahren zu verbinden. Ich weiß, dass sie mich bei meiner Rückkehr leiten.

Zitiervorschlag

Uzategui Bonilla, Amelia. 2022. “Rückkehr ins Territorium“ In: Moving Interventions 2: 
Between Non-cooperation and Community-building Practices of Resilience in dance – through dance – because of dance, December 2022. Edited by / Herausgegeben von: Sarah Bergh and Sandra Chatterjee, with Ariadne Jacoby (CHAKKARs – Moving Interventions), translated into German by: Anja Tracksdorf (Tracksdorf Translations). Published by /veröffentlicht von CHAKKARs – Moving Interventions.

Über die Autorin

Amelia Uzategui Bonilla wurde in Lima, Peru, geboren. Seit 2007 tritt sie professionell in den Vereinigten Staaten, Südamerika und Europa auf. Sie begann 2010 mit dem Choreografieren und lernte bei innovativen KünstlerInnen wie Marina Abramović, Luís Antonio Vílchez, Anna Halprin, Cunamacue Afro-Peruvian Dance Theater, NAKA Dance Theater und Nina Wise. Amelia ist Absolventin von Juilliard (BFA with Scholastic Distinction) und der HfMDK Frankfurt (MA CoDE). Derzeit ist sie Dozentin an der HfMDK Frankfurt für zeitgenössische Tanztechnik und künstlerische Co-Leiterin des ID_Tanzhauses Frankfurt Rhein-Main von ID_Frankfurt.
Amelia Uzategui Bonilla

Frankfurt

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